Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
Rücken zu errichten. Du hast uns beschützt, und wir stehen in deiner Schuld. Trotzdem muss ich dich noch einmal um deine Hilfe bitten. Der Große Kreis steht vor seiner Vernichtung. Bald werden auch die Letzten von uns geschlagen sein. Dann stehen die Grenzen offen, und niemand mehr wird über diese Welt wachen …«
»Genug!«, fuhr Aurora dazwischen und stieß ihn zur Seite. »Er hält dich zum Narren! Sieh ihn dir an, diesen Schwächling. Versteckt hat er sich, hat ein Kind großgezogen und seine eigenen Leute belogen. Und so einem willst du glauben? Komm zu uns, Tyraner! Viele deiner Brüder stehen bereits in den Diensten meines Herrn. Er würde auch dich mit offenen Armen empfangen!«
Der Riese zögerte. Sein Blick bewegte sich zwischen Cornelius und Aurora hin und her. Sie spürte, dass die Saat des Zweifels auf fruchtbaren Boden fiel. Verschlagen lächelnd hob sie ihre Hände und spreizte die langen Fingernägel.
»Die Entscheidung liegt bei dir, Gumbold Blogarth«, sagte Aurora mit hypnotisch schmeichelnder Stimme. »Komm zu uns, kämpfe an unserer Seite! Oder entscheide dich für ein sterbendes Häuflein Lügner, die dich einen Mörder nennen und deine Existenz verleugnen.«
Der Riese starrte auf ihre Hände. Ihre Gesten und Worte benebelten seinen Geist, machten ihn zu einer willenlosen Kreatur.
»Was tut sie da?«, flüsterte Eliane, die das Geschehen gebannt verfolgte.
»Da ist Gift unter ihren Fingernägeln. Gift, das dir deine Erinnerung raubt«, sagte Jonathan leise. »Ohne Erinnerung bist du hilflos.«
Eliane konnte nicht länger hinsehen. Sie beugte sich weit aus dem Fenster und schrie aus Leibeskräften: »Hör nicht auf sie, Gumbold!«
Das Monstrum vernahm ihre Stimme und erwachte aus seiner Trance.
Aurora schoss einen hasserfüllten Blick zu Eliane hinauf und versuchte, den Riesen wieder einzufangen. »Nur auf meine Stimme sollst du hören! Vergiss, was sie gesagt hat, und triff deine Entscheidung!«
Gumbold traf seine Entscheidung. Er hob seine steinerne Pranke und rammte sie mit der Wucht eines Dampfhammers in die Erde. Eine Wolke aus Staub schoss empor, und Aurora war verschwunden – in den Boden gestampft wie eine lästige Fliege.
Stille senkte sich über die Lichtung. Jonathan wusste nicht, ob er entsetzt aufschreien oder erleichtert lachen sollte. Cornelius schien es ähnlich zu ergehen. Er stand wie angewurzelt da und starrte auf den Boden.
»Komm mit!«, rief Jonathan Eliane zu.
Sie ließen den ohnmächtigen Seppuku zurück und rannten den Turm hinab auf das Schlachtfeld. Bisher hatten sie alles aus der Distanz erlebt. Jetzt, wo sie die leblosen, blutenden und stöhnenden Leiber direkt vor sich sahen, wurden sie brutal mit der Realität konfrontiert. Sie traten in den Schatten des Aschenriesen und mussten für einen Moment innehalten. Eliane legte den Kopf in den Nacken, starrte zu der furchigen, felsigen Gestalt hinauf und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Das ist reiner Wahnsinn … kein Mensch wird mir das glauben!«
Jonathan rannte zu seinem Vater, der ihn allerdings nicht bemerkte. Er kniete vor Auroras staubigem Grab nieder, als wollte er ihr die letzte Ehre erweisen. Tatsächlich las Jonathan so etwas wie Trauer in seinem Gesicht. Obwohl sie ihn verraten hatte, empfand Cornelius doch Mitleid mit ihr.
»Das war nicht nötig, Gumbold«, sagte er.
»Doch, das war es.« Thorne humpelte auf ihn zu. Die einstmals mächtige Kreatur gab ein Bild des Jammers ab: Sein rechter Flügel war gebrochen und hing schlaff zu Boden, ein Bein lahmte, sein Auge war verquollen, und aus dem Fell troff das Blut. »Sie war eine Verräterin, eine Gefahr für uns alle. Du hast recht getan, Gumbold!«
»Vergib mir, wenn ich dir widerspreche, Thorne, aber wir kämpfen nur zu unserer Verteidigung, niemals um zu töten.«
Thorne stieß ein zorniges Brüllen aus. »Ich kenne die Regeln, Cornelius! Und ich sage dir: Es wird Zeit, sie zu ändern.«
»Dann verraten wir alles, wofür der Große Kreis steht.«
»Du ziehst es also vor, mit deinen Idealen unterzugehen?«, grollte Thorne.
»Er hat recht, Cornelius!«, rief Cassius. Auch er war schwer verletzt, aber auf den Beinen. Um ihn herum hatten sich die letzten Gefährten des Großen Kreises versammelt.
Cornelius blickte auf. »Jonathan! Cassius! Ihr seid gesund.«
Er nahm seinen Sohn in den Arm, so fest, dass Jonathan kaum noch Luft bekam.
In Cassius’ Freude mischten sich düstere Gedanken. »Vielleicht ist es an der Zeit, die
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