Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
Männer nicht. Sie werden nicht besser oder schlechter behandelt als jeder von uns.«
Eliane sog scharf Luft ein. Der Gedanke, den Leuten zu helfen, die ihr Dorf terrorisiert hatten, machte sie wütend. Cassius hatte Verständnis für ihre Gefühle, trotzdem schüttelte er den Kopf.
»Ich bin nicht in jedem Punkt einer Meinung mit meinem gutmütigen Bruder, Eliane, aber in einem doch: Wir sind nicht wie sie. Wir ehren das Leben, auch das unserer Feinde. Sie werden genauso behandelt wie alle anderen. Und nun lasst uns keine Zeit mehr verlieren!«
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Feuer in der Nacht
Es waren Hunderte, die mit blutenden Wunden und gebrochenen Gliedern im Gras lagen. Jonathan half ihnen, so gut er konnte. Behutsam hob er ihre Köpfe und ließ das heilende Wasser vom Herz des Lazarus in ihre Münder laufen. Er fand allerdings auch Menschen, deren Verletzungen zu schwer waren. Ihre Blicke blieben leer, so wie bei der alten Johanna im Haus am Rande des Waldes. Tiefe Trauer erfüllte sein Herz. Er war froh, in diesem Moment nicht allein zu sein.
Eliane schien seine Gedanken zu teilen. Ihr Zorn auf Riots Männer war im selben Moment verflogen, als sie den Tod und das Leid der Verletzten mit eigenen Augen sah. Unermüdlich verteilte sie Wasser und half denen, die zu schwach waren, um auf eigenen Beinen zu stehen. Cornelius, Cassius und die wenigen unverletzten Gefährten des Großen Kreises kümmerten sich um die schweren Fälle, deren Wunden zu tief oder Verletzungen zu kompliziert waren.
Als die Sonne den Zenit überschritten hatte, legte sich friedliches Abendrot über die Lichtung. Riots Schergen durften zu ihrer eigenen Verwunderung gehen, wann es ihnen beliebte. Manche von ihnen verhöhnten die, die ihnen geholfen hatten, andere versprachen, nie wieder die Faust gegen sie zu erheben, wieder andere schwiegen aus Scham oder Feindseligkeit. Schließlich war auch der Letzte von ihnen humpelnd im Wald verschwunden.
Hin und wieder wanderte Jonathans Blick zum Glockenturm. Cassius selbst hatte dort nachgesehen, um Seppuku zu finden und dingfest zu machen, doch er war zu spät gekommen. Seppuku war geflohen. Natürlich, dachte Jonathan bitter. Wahrscheinlich hatte er gemeinsam mit Riot das Weite gesucht und schmiedete längst Rachepläne. Jonathan hatte nicht mehr die Kraft, sich darüber Gedanken zu machen. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und als er sich umsah, blickte er in die Augen seines Vaters, die voller Liebe und Stolz waren.
»Es ist alles getan, Jonathan. Du kannst dich jetzt ausruhen.«
Jonathan nickte. Er wollte sich eine kurze Pause gönnen. Als er seinen Kopf ins weiche Gras legte, fielen ihm die Augen bereits zu, und er sank in die Arme des Schlafs.
* * *
Er wurde von Musik geweckt. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, dass er sich in seinem Zimmer befand, zurück auf Cassius’ Burg. Die Nacht hatte begonnen. Durch das Fenster sah er ein Feuer flackern und hörte Gelächter und Gesang. Zahllose Menschen hatten sich im Burghof versammelt. Auf dem Stuhl vor seinem Bett kauerte Cornelius und schnarchte leise. Offenbar hatte er über Jonathans Schlaf gewacht, bis er selbst von der Müdigkeit übermannt worden war. Jonathan musste lächeln.
»Papa?«
Cornelius schreckte hoch und blinzelte. »Du bist wach.«
Jonathan streckte sich. Er fühlte sich so frisch und ausgeruht, dass er Bäume ausreißen könnte.
»Die paar Stunden Schlaf haben mir echt gutgetan.«
Vielsagend hob sein Vater die Brauen. »Ein paar Stunden? Du hast fast zwei Tage geschlafen.«
Jonathan fuhr erschrocken hoch. »Zwei Tage?«
»Du hast dich völlig verausgabt. Wir haben dich aus dem Wald getragen, und du hast nicht einmal die Augen geöffnet.«
Staunend blickte Jonathan auf seine Hände. Zwei Tage!
»Habt ihr Riot gefunden?«
»Nein. Vielleicht ist er tot, aber das glaubt keiner von uns. Es spielt keine Rolle, Jonathan. Es gibt viele wie ihn. Selbst wenn wir ihn besiegt hätten, würde schon bald ein neuer seinen Platz einnehmen.«
Wut packte Jonathan. Er war so weit gegangen, hatte bis zur Erschöpfung gekämpft – und wofür das alles? Seine Mutter war noch immer in den Händen eines Wahnsinnigen.
Cornelius seufzte. »Ich weiß, was du fühlst. Ich denke auch an nichts anderes. Jede Minute, jeden Augenblick sind meine Gedanken bei ihr. Ich würde alles geben, nur um zu wissen, wo sie ist …«
»Oder ob sie noch lebt«, flüsterte Jonathan.
»Sie lebt!«, entgegnete Cornelius ohne den Hauch
Weitere Kostenlose Bücher