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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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die Karten leihen, damit ich sie kopieren könnte. Leider hat sein Schiff Segel gesetzt, bevor ich mit den Zeichnungen fertig war, deswegen musste ich die Hälfte aus der Erinnerung malen.«
    »Und was hast du ihm vorhergesagt?«
    »Die Wahrheit. Dass er noch vor Jahresende ertrinken werde.«
    Vinculus lachte zufrieden.
    Anscheinend war Childermass zum Zeitpunkt, als er den Handel mit dem toten Matrosen machte, so arm gewesen, dass er sich nicht einmal Papier hatte leisten können, denn die Karten waren auf die Rückseite von Schankhausrechnungen, Wäschelisten, Briefen, alten Verzeichnissen und Theaterplakaten gezeichnet. Später hatte er das Papier auf bunten Karton geklebt, aber bei manchen Karten schien das Gedruckte oder Geschriebene auf der Vorderseite durch und verlieh ihnen ein merkwürdiges Aussehen.
    Childermass legte neun Karten nebeneinander aus. Er drehte die erste Karte um.
    Unter dem Bild befand sich eine Zahl und ein Name: VIIII L'Ermite . Es zeigte einen alten Mann in einer Mönchskutte mit einer Mönchskapuze. Er trug eine Laterne und stützte sich auf einen Stock, als hätte er aufgrund des vielen Sitzens und Studierens nahezu den Gebrauch seiner Beine verlernt. Sein Gesicht war verkniffen und argwöhnisch. Die Karte strahlte eine trockene Atmosphäre aus, die den Betrachter einzuhüllen schien, als wäre die Karte vollkommen verstaubt.
    »Hmm«, sagte Childermass. »Deine Handlungen werden im Augenblick von einem Eremiten beherrscht. Na ja, das wussten wir schon.«
    Die nächste Karte war Le Mat , die einzige Karte, die keine Zahl aufwies, als bliebe die dargestellte Gestalt irgendwie außerhalb der Geschichte. Auf Childermass' Karte war ein Mann zu sehen, der unter einem sommerlichen Baum eine Straße entlangging. Auch er stützte sich auf einen Stock, zudem trug er einen Stock über der Schulter, an dem ein Bündel hing. Ein kleiner Hund sprang hinter ihm her. Die Figur sollte den Narren oder Toren alter Zeiten darstellen. An seinem Hut hing ein Glöckchen, und Bänder flatterten um seine Knie, die Childermass rot und grün gezeichnet hatte. Childermass schien diese Karte nicht recht deuten zu können. Er überlegte eine Weile und drehte dann die nächsten zwei Karten um: VIII La Justice , eine gekrönte Frau, die ein Schwert und eine Waage in den Händen hielt, und Die Zwei der Stäbe . Die Stäbe waren gekreuzt und konnten unter anderem als Kreuzweg interpretiert werden.
    Childermass lachte kurz auf. »Nun ja«, sagte er, verschränkte die Arme und sah Vinculus amüsiert an. »Diese Karte hier« – er tippte auf La Justice – »sagt mir, dass du deine Möglichkeiten abgewogen hast und zu einer Entscheidung gekommen bist. Und diese« – er deutete auf Die Zwei der Stäbe – »sagt mir, wie deine Entscheidung aussieht: Du wirst auf Wanderschaft gehen. Wie es scheint, habe ich meine Zeit verschwendet. Du hast dich bereits entschlossen, London zu verlassen. So viele Beteuerungen, Vinculus, und doch hast du vor, wegzugehen.«
    Vinculus zuckte die Achseln, als wollte er sagen: Was erwartest du denn?
    Die fünfte Karte war der Valet de Coupe, Der Page der Kelche .
    Einen Pagen stellt man sich normalerweise als junge Person vor, aber es war ein reifer Mann mit gesenktem Kopf abgebildet. Sein Haar war zottlig, und sein Bart war dicht. In der linken Hand hielt er einen schweren Kelch, aber darauf konnte sein sonderbarer angestrengter Ausdruck nicht zurückzuführen sein – außer es war der schwerste Kelch der Welt. Nein, es musste an einer anderen, nicht sofort ersichtlichen Bürde liegen. Aufgrund des Materials, das Childermass für die Anfertigung der Karten benutzt hatte, sah diese Karte höchst kurios aus. Sie war auf die Rückseite eines Briefs gezeichnet, und die Handschrift schimmerte durch. Die Kleider des Mannes waren ein Gekritzel, und auch auf seinem Gesicht und seinen Händen befanden sich Fragmente von Buchstaben.
    Als er das sah, lachte Vinculus, als würde er die Karte wiedererkennen. Er tippte dreimal auf die Karte, als wollte er sie freundlich begrüßen. Vielleicht lag es daran, dass Childermass jetzt nicht mehr so sicher war wie zuvor. »Du hast jemandem eine Botschaft zu übermitteln«, sagte er unsicher.
    Vinculus nickte. »Und wird die nächste Karte mir die Person zeigen?«, fragte er.
    »Ja.«
    »Aha!«, rief Vinculus aus und drehte die sechste Karte selbst um.
    Die sechste Karte war der Cavalier de Baton, Der Ritter der Stäbe . Ein Mann mit einem breitkrempigen Hut saß

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