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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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gar nicht erwarten konnte, mehr zu sehen, stimmte diesem Vorschlag sofort zu und meinte, sie sollten das Innere des Schattenhauses erkunden.
    Im blendenden Sonnenlicht war das Haus nur ein hoch aufragender grünblauer Dunst vor dem Himmel. Als sie durch die Tür die große Eingangshalle betraten, rief Mr. Segundus: »Oh!«
    »Was ist?«, fragte Mr. Honeyfoot erschrocken.
    Zu beiden Seiten der Tür befand sich die in Stein gehauene Gestalt des Rabenkönigs. »Die habe ich in meinem Traum gesehen«, sagte Mr. Segundus.
    Er sah sich in der Halle um. Die Spiegel und alten Gemälde, die er in seinem Traum gesehen hatte, waren längst verschwunden. Flieder- und Holunderbüsche füllten die Löcher in den Mauern. Rosskastanien und Eschen bildeten ein grünes und silbriges Dach, das vor dem blauen Himmel schwankte und ihn sprenkelte. Feine goldene Gräser und Kuckuckslichtnelken ersetzten das Gitterwerk in den leeren Fenstern.
    In einer Ecke der Halle standen zwei undeutliche Gestalten in blendendem Sonnenlicht. Auf dem Boden lagen mehrere Gegenstände verstreut, so etwas wie zauberischer Abfall: Papierfetzen mit Zaubersprüchen darauf, eine silberne Schale mit Wasser darin und eine halb heruntergebrannte Kerze in einem alten Kerzenständer aus Messing.
    Mr. Honeyfoot wünschte diesen schattenhaften Figuren einen guten Tag, und eine erwiderte den Gruß in ernsten und höflichen Worten, aber die andere rief im selben Augenblick aus: »Henry, das ist er! Das ist der Kerl! Das ist der Mann, den ich dir beschrieben habe. Siehst du ihn? Ein kleiner Mann mit so dunklen Haaren und Augen, dass er fast Italiener sein könnte – obwohl sein Haar schon etwas grau ist. Aber sein Ausdruck ist so verschlossen und furchtsam, dass er zweifellos Engländer sein muss. Ein schäbiger Rock, der staubig und geflickt ist, mit ausgefransten Manschetten, die er verstecken will, indem er die Fransen ganz kurz abgeschnitten hat. Oh, Henry, das ist gewiss der Mann. Sie, Sir!«, rief er und wandte sich plötzlich an Mr. Segundus. »Erklären Sie sich!«
    Der arme Mr. Segundus war höchst erstaunt, sich selbst und seinen Rock so haargenau von einem Fremden beschrieben zu hören – und die Beschreibung war noch dazu so überaus niederschmetternd. Überhaupt nicht höflich. Während er dastand und seine Gedanken zu sammeln versuchte, trat sein Gesprächspartner in den Schatten einer Esche, die einen Teil der nördlichen Mauer ersetzte, und Mr. Segundus erblickte zum ersten Mal im wachen Leben Jonathan Strange.
    Etwas zögerlich (denn er war sich wohl bewusst, wie seltsam es klang) sagte Mr. Segundus: »Ich habe Sie schon einmal gesehen, Sir, in meinem Traum, glaube ich.«
    Das brachte Strange noch mehr auf. »Der Traum, Sir, war meiner! Ich habe mich mit dem Ziel hingelegt, ihn zu träumen. Ich kann Beweise erbringen, Zeugen dafür, dass es mein Traum war. Mr. Woodhope« – er deutete auf seinen Begleiter – »hat mich dabei beobachtet. Mr. Woodhope ist Geistlicher – Pfarrer einer Gemeinde in Gloucestershire –, ich kann mir nicht vorstellen, dass sein Wort in Zweifel gezogen wird. Ich bin der festen Ansicht, dass in England die Träume eines Gentleman nur ihn selbst etwas angehen. Ich denke, da gibt es ein Gesetz, und wenn nicht, sollte das Parlament unverzüglich eins verabschieden. Es steht einem Mann schlecht an, sich in anderer Leute Träume zu drängen.« Strange hielt inne, um Atem zu holen.
    »Sir!«, rief Mr. Honeyfoot erregt. »Ich muss Sie bitten, diesen Herrn mit etwas mehr Respekt zu behandeln. Sie haben nicht das Glück, ihn so gut zu kennen wie ich, aber sollte Ihnen diese Ehre zuteil werden, werden Sie merken, dass seinem Charakter nichts ferner liegt als der Wunsch, andere zu kränken.«
    Strange gab einen verärgerten Laut von sich.
    »Es ist gewiss sonderbar, dass Leute in die Träume anderer eindringen«, sagte Henry Woodhope. »Es war doch bestimmt nicht derselbe Traum?«
    »Ich fürchte, er war es«, sagte Mr. Segundus und seufzte. »Seitdem ich diesen Garten betreten habe, habe ich das Gefühl, dass er voller unsichtbarer Türen ist, und ich bin durch eine nach der anderen gegangen, bis ich eingeschlafen bin und den Traum geträumt habe, in dem ich diesen Herrn sah. Ich befand mich in einem Zustand größter Verwirrung. Ich wusste, dass nicht ich diese Türen geöffnet hatte, aber es war mir einerlei. Ich wollte nur sehen, was sich an ihrem Ende befindet.«
    Henry Woodhope schaute Mr. Segundus an, als würde er ihn nicht ganz

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