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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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rutschig und gefährlich machte. Es sangen ebenso viele Vögel im Haus wie davor. In ihrem hundertsten Lebensjahr waren beide, Haus und Frau, verfallen, aber sowohl das eine als auch die andere existierten noch. Sie lebte noch einmal neunundvierzig Jahre, bevor sie eines Sommermorgens in ihrem Bett starb, mit den vom Sonnenschein durchbrochenen Schatten einer riesigen Esche um sich herum.
    Als Mr. Honeyfoot und Mr. Segundus an diesem heißen Nachmittag zum Schattenhaus ritten, waren sie ein wenig nervös, weil sie befürchteten, dass Mr. Norrell davon hören könnte (denn Mr. Norrell, dem Admiräle und Minister respektvolle Schreiben schickten und ihre Aufwartung machten, wurde stündlich bedeutender). Sie befürchteten, dass er Mr. Honeyfoot einen Bruch seines Vertrags zur Last legen könnte. Damit so wenig Leute wie möglich von ihrem Vorhaben erfuhren, hatten sie niemandem gesagt, wohin sie wollten, waren in aller Frühe aufgebrochen und zu einem Bauernhof gegangen, wo sie Pferde ausgeliehen hatten; auf Umwegen waren sie zum Schattenhaus geritten.
    Am Ende einer staubig weißen Straße gelangten sie zu einem hohen zweiflügeligen Tor. Mr. Segundus stieg ab, um es zu öffnen. Das Tor war aus edlem kastilischem Gusseisen, das leuchtend dunkelrot verrostet und an vielen Stellen zerfressen und brüchig war. Es hinterließ auf Mr. Segundus' Hand rötliche Spuren, als wäre eine Million getrockneter pulverisierter Rosen gepresst und zum traumähnlichen Trugbild eines Tors geformt worden. Das geschwungene Eisen war mit kleinen Basreliefs von böse lachenden Fratzen verziert, die jetzt glutrot und in Auflösung befindlich waren, als unterstünde der Teil der Hölle, in dem sich diese Ungläubigen jetzt aufhielten, einem unaufmerksamen Teufel, der seinen Ofen zu heiß hatte werden lassen.
    Hinter dem Tor wuchsen tausend blassrosa Rosen und ragten hohe, nickende Gipfel aus sonnenbeschienenen Ulmen, Eschen und Kastanien und der blaue, blaue Himmel auf. Vier hohe Giebel, ungezählte hohe graue Kamine und mit steinernem Gitterwerk versehene Fenster waren zu erkennen. Aber das Schattenhaus war seit mehr als einem Jahrhundert eine Ruine und bestand ebenso aus Holunderbüschen und Heckenrosen wie aus silbrigem Kalkstein, sowohl aus sommerlichen Düften wie aus Eisen und Holz.
    »Es ist wie die Anderen Lande«, sagte Mr. Segundus und drückte in seiner Begeisterung das Gesicht gegen das Tor, was ihm erneut einen Abdruck wie von pulverisierten Rosen eintrug 42 . Er zog das Tor auf und führte sein Pferd hindurch. Mr. Honeyfoot folgte ihm. Sie banden die Pferde an einem steinernen Wasserbecken fest und begannen, den Garten zu erkunden.
    Das Gelände um das Schattenhaus verdiente eigentlich den Namen »Garten« nicht mehr. Seit mehr als hundert Jahren hatte sich niemand mehr darum gekümmert. Aber es war auch kein Wald. Und keine Wildnis. Die englische Sprache besitzt kein Wort für den Garten eines Zauberers zweihundert Jahre nach seinem Tod. Er war üppiger und wesentlich wilder als alle Gärten, die Mr. Segundus und Mr. Honeyfoot je gesehen hatten.
    Mr. Honeyfoot erfreute sich an allem, was er sah. Eine Allee aus Ulmen, die fast bis auf halbe Höhe in einem Meer aus leuchtend rosa Fingerhut versanken, veranlasste ihn zu begeisterten Ausrufen. Er staunte laut über einen in Stein gehauenen Fuchs, der ein Baby im Maul trug. Er sprach beglückt über die bemerkenswerte magische Atmosphäre des Ortes und erklärte, dass sogar Mr. Norrell etwas lernen könnte, wenn er hierher käme.
    Aber Mr. Honeyfoot war nicht sehr empfänglich für Atmosphärisches; Mr. Segundus andererseits wurde langsam unbehaglich zu Mute. Ihm schien, als würde Absaloms Garten einen eigentümlichen Einfluss auf ihn ausüben. Während Mr. Honeyfoot und er herumschlenderten, war er mehrmals kurz davor, mit jemandem zu sprechen, den er zu kennen glaubte. Oder einen Ort wieder zu erkennen, den er von früher kannte. Aber gerade als er sich zu erinnern meinte, was er hatte sagen wollen, merkte er jedes Mal, dass das, was er für einen Freund gehalten hatte, nur der Schatten auf einem Rosenstrauch war. Der Kopf des Mannes war nur ein Zweig blasser Rosenblüten, und seine Hand ebenfalls. Der Ort, den Mr. Segundus so gut zu kennen glaubte wie eine Szene aus seiner Kindheit, war nur eine zufällige Konstellation von gelb blühendem Busch, ein paar schwankenden Holunderzweigen und der kantigen sonnenbeschienenen Ecke des Hauses. Außerdem fiel ihm nicht ein, wer der

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