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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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finstere Regung ihn dazu getrieben hat, sie umzubringen.« Mr. Segundus hatte seinen Freund begleitet, die Dokumente gelesen und ihm geholfen, das alte Latein zu verstehen. Aber obwohl Mr. Segundus alte Dokumente liebte (niemand liebte sie mehr) und er großes Vertrauen in ihre Nützlichkeit setzte, zweifelte er insgeheim daran, dass sieben fünfhundert Jahre alte lateinische Wörter das Leben eines Menschen erklären konnten. Aber Mr. Honeyfoot war voller Zuversicht. Dann fiel Mr. Segundus ein, dass sie, da sie nun schon einmal in Wiltshire waren, die Gelegenheit nutzen und das berühmte Schattenhaus besichtigen sollten, das in dieser Grafschaft stand und das sie beide nicht kannten.
    Die meisten von uns werden sich daran erinnern, dass wir in der Schule vom Schattenhaus gehört haben. Der Name beschwört vage Vorstellungen von Zauberei und Ruinen herauf, aber kaum einer von uns weiß, warum es so wichtig ist. Die Wahrheit ist, dass die Historiker der Zauberei noch immer über seine Bedeutung streiten, und einige behaupten, ohne zu zögern, dass es völlig bedeutungslos ist. Keine großen Begebenheiten in der Geschichte der englischen Zauberei haben sich dort zugetragen; zudem war von den zwei Zauberern, die dort gelebt haben, einer ein Scharlatan und der andere eine Frau – beides Eigenschaften, die in den Augen der modernen Gentleman-Zauberer und Gentleman-Historiker keine Empfehlung darstellen –, und doch war das Schattenhaus für zwei Jahrhunderte einer der magischsten Orte Englands.
    Es war im 16. Jahrhundert von Gregory Absalom erbaut worden, dem Hofzauberer von König Henry VIII. und der Königinnen Mary und Elizabeth. Wenn wir den Erfolg eines Zauberers daran messen, wie viel Zauberei er betreibt, dann war Absalom überhaupt kein Zauberer, denn seine Zaubersprüche zeigten nur selten Wirkung. Wenn wir stattdessen jedoch das Geld, das ein Zauberer einnimmt, zu unserem Maßstab machen, dann war Absalom mit Sicherheit einer der größten englischen Zauberer, denn er wurde in Armut geboren und starb als sehr reicher Mann.
    Eine seiner kühnsten Taten bestand darin, den König von Dänemark zu überreden, ihm eine große Handvoll Diamanten für einen Zauberspruch zu bezahlen, der laut Absalom das Fleisch des Königs von Schweden in Wasser verwandeln würde. Selbstverständlich tat der Zauberspruch nichts dergleichen, aber mit dem Geld, das Absalom für die Hälfte der Diamanten bekam, baute er das Schattenhaus. Er richtete es mit türkischen Teppichen, mit Spiegeln und Glas aus Venedig und hundert anderen schönen Dingen ein; und als das Haus fertig war, geschah etwas Merkwürdiges – oder es geschah vielleicht oder vielleicht auch überhaupt nicht. Manche Gelehrte glauben – andere glauben es nicht –, dass der Zauber, den Absalom seinen Kunden immer nur vorgetäuscht hatte, sich nun aus eigenem Antrieb in seinem Haus vollzog.
    In einer mondhellen Nacht im Jahr 1610 schauten zwei Dienstmädchen aus einem Fenster im oberen Stock und sahen zwanzig oder dreißig schöne Damen und Herren im Kreis auf dem Rasen tanzen. Im Februar 1666 unterhielt sich der Ire Valentine Greatrakes in einem kleinen Durchgang neben der großen Wäschemangel auf Hebräisch mit den Propheten Moses und Aaron. 1667 blickte Mrs. Penelope Chelmorton, die auf Besuch im Haus weilte, in einen Spiegel und sah ein kleines drei- oder vierjähriges Mädchen darin. Während sie zuschaute, wuchs das Mädchen heran und wurde älter, bis sie sich selbst erkannte. Mrs. Chelmortons Spiegelbild alterte weiter, bis nichts mehr von ihr übrig war außer einer vertrockneten Leiche. Der Ruf des Schattenhauses beruht auf diesen und hundert ähnlichen Geschichten.
    Absalom hatte nur ein Kind, eine Tochter namens Maria. Sie war im Schattenhaus geboren und verbrachte ihr ganzes Leben dort, verließ es nie länger als für einen oder zwei Tage. In ihrer Jugend wurde das Haus von Königen und Botschaftern, Gelehrten, Soldaten und Dichtern besucht. Auch nach dem Tod ihres Vaters kamen Besucher, um sich das Ende der englischen Zauberei anzusehen, ihre letzte seltsame Blüte am Vorabend ihres langen Winters. Dann, als immer weniger Besucher kamen, begann das Haus zu verfallen und der Garten zu verwildern. Maria Absalom weigerte sich, das Haus ihres Vaters instand zu halten. Sogar Teller, die zerbrachen, blieben als Scherben auf dem Boden liegen. 41
    Bis zu ihrem fünfzigsten Lebensjahr hatte der Efeu so gewuchert, dass er bis in alle Schränke wuchs und den Boden

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