Jonathan Strange & Mr. Norrell
erntete.
Die nächste Person, der er sein Leid schildern wollte, war John Longridge. Diesmal schilderte er haargenau Julius Cäsars Taten und Erfahrungen in Britannien. Seine Ausführungen waren verständlicher und detaillierter als die jedes Gelehrten, der sich seit zwanzig Jahren mit dem Thema befasst hatte. Wieder enthielten sie Informationen, die in keinem Buch zu finden waren. 54
Er machte zwei weitere Versuche, über seine schreckliche Situation zu sprechen. Gegenüber Mrs. Brandy verteidigte er eigenartigerweise Judas Ischariot und erklärte, dass Ischariot seine letzten Handlungen auf Anweisungen von zwei Männern namens John Copperhead und John Brassfoot ausgeführt habe, die er beide für Engel gehalten habe; und Toby Smith, Mrs. Brandys Ladengehilfe, gab er eine Aufzählung aller Menschen in Irland, Schottland, Wales und England, die während der letzten zweihundert Jahre von Elfen entführt worden waren. Von keiner dieser Personen hatte er je gehört.
Stephen musste zwangsläufig den Schluss ziehen, dass er nicht von seiner Verzauberung sprechen konnte , sosehr er es auch versuchte.
Die Person, die am meisten unter seinem merkwürdigen Schweigen und seiner Niedergeschlagenheit litt, war zweifellos Mrs. Brandy. Sie begriff nicht, dass er sich der ganzen Welt gegenüber verändert hatte, und sah nur, dass er sich ihr gegenüber anders verhielt. Anfang September stattete Stephen ihr einen Besuch ab. Sie hatten sich seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen, und darüber war Mrs. Brandy so unglücklich, dass sie Robert Austin geschrieben hatte, und Robert hatte Stephen für seine Nachlässigkeit getadelt. Aber kaum saß Stephen in dem kleinen Wohnzimmer über dem Geschäft in der St. James's Street, hätte niemand es Mrs. Brandy verübelt, wenn sie gewünscht hätte, dass er sofort wieder ginge. Er stützte den Kopf auf die Hand, seufzte schwer und hatte ihr nichts zu sagen. Sie bot ihm Constantia-Wein an, Orangenmarmelade, ein altmodisches süßes Brötchen in Form einer Perücke – alle möglichen Köstlichkeiten –, aber er lehnte sie alle ab. Er wollte nichts; also setzte sie sich auf die andere Seite des Kamins und nahm ihre Handarbeit wieder auf – eine Schlafmütze, die sie verzagt für ihn bestickte.
»Vielleicht«, sagte sie, »haben Sie genug von London und von mir und möchten nach Afrika zurückkehren?«
»Nein«, entgegnete Stephen.
»Ich nehme an, Afrika ist ein außerordentlich zauberhafter Ort«, sagte Mrs. Brandy, die entschlossen schien, sich selbst zu bestrafen, indem sie Stephen nach Afrika zurückschickte. »Das habe ich immer gehört. Überall, wohin man sieht, Orangen und Ananas und Zuckerrohr und Kakaobäume.« Seit vierzehn Jahren arbeitete sie in der Lebensmittelbranche und hatte sich die Welt gemäß ihren Waren eingeteilt. Sie lachte bitter auf. »Mir scheint, in Afrika erginge es mir sehr schlecht. Wozu brauchen Leute Läden, wenn sie nur die Hand ausstrecken und vom nächsten Baum eine Frucht pflücken müssen? Oh ja, in Afrika wäre ich sofort ruiniert.« Sie biss einen Faden ab. »Nicht, dass ich nicht trotzdem morgen aufbrechen würde« – sie stieß den Faden vehement durch das unschuldige Nadelöhr –, »wenn jemand mich darum bitten würde.«
»Sie würden um meinetwillen nach Afrika gehen?«, fragte Stephen überrascht.
Sie blickte auf. »Um Ihretwillen würde ich überall hingehen«, sagte sie. »Ich dachte, das wüssten Sie.«
Sie schauten einander unglücklich an.
Stephen sagte, dass er zurückkehren und sich seinen Pflichten in der Harley Street widmen müsse.
Draußen auf der Straße verdunkelte sich der Himmel, und es begann zu regnen. Die Leute spannten ihre Schirme auf. Als Stephen die St. James's Street entlangging, sah er etwas Seltsames – ein schwarzes Schiff segelte über den Köpfen der Menschen durch den grauen Regen auf ihn zu. Es war eine Fregatte, ungefähr einen halben Meter hoch, mit schmutzigen, zerrissenen Segeln und abblätternder Farbe. Sie hob und senkte sich in Nachahmung der Schiffe auf dem Meer. Stephen fröstelte, als er sie sah. Ein Bettler löste sich aus der Menge, ein Neger mit ebenso glänzender dunkler Haut wie Stephen. An seinem Hut befestigt war das Schiff. Beim Gehen zog er den Kopf ein und hob ihn wieder, damit das Schiff segeln konnte. Er vollführte diese hüpfenden und schwankenden Bewegungen ganz langsam und vorsichtig, um seinen enormen Hut nicht zu verlieren. Es sah aus, als würde ein Mann ganz, ganz langsam
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