Jonathan Strange & Mr. Norrell
Schmied heraus, über einen Boden aus Heringen zu laufen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich ein Publikum versammelt, und all die Zuschauer und Herumlungerer leerten das Fass aus und pflasterten den Boden mit Fisch. Dann lief der Schmied vom einen Ende des Raums zum anderen, bis der Boden nur noch aus einem stinkenden Matsch aus zertretenem Fisch bestand und der Schmied nach all seinen Stürzen von oben bis unten blutverschmiert war. Dann forderte der Schmied Clegg heraus, auf dem Rand des Wirtshausdachs zu balancieren. Clegg hatte bereits den ganzen Tag getrunken. Immer wieder glaubten die Zuschauer, er würde herunterfallen und sich das ehrlose Genick brechen, doch nichts passierte. Dann forderte Clegg den Schmied heraus, seine Schuhe zu braten und zu essen – was der Schmied auch tat –, und schließlich forderte der Schmied Clegg heraus, Findhelms Buch zu essen. Clegg zerriss es in einzelne Streifen und aß es Stück um Stück.«
Mr. Norrell stieß einen Schreckensschrei aus. Sogar Lascelles blinzelte überrascht.
»Als Clegg Tage später aufwachte«, sagte Childermass, »wurde ihm klar, was er getan hatte. Er machte sich auf nach London, und vier Jahre später warf er ein Mädchen ins Stroh, das in einem Wirtshaus in Wapping bediente – sie war Vinculus' Mutter.«
»Aber die Erklärung ist ganz einfach«, rief Mr. Norrell. »Das Buch ging überhaupt nicht verloren. Die Geschichte mit dem Trinkwettbewerb war lediglich eine Erfindung von Clegg, um die Wahrheit vor Findhelm zu verschweigen. In Wirklichkeit behielt er das Buch und gab es seinem Sohn. Wenn wir jetzt nur herausfinden könnten ...«
»Aber warum?«, sagte Childermass. »Warum sollte er all diese Mühen auf sich nehmen, nur um das Buch für einen Sohn zu beschaffen, den er nie gesehen hatte und der ihm egal war? Übrigens war Vinculus noch gar nicht auf der Welt, als Clegg in Richtung Derbyshire aufbrach.«
Lascelles räusperte sich. »Diesmal stimme ich mit Mr. Childermass überein, Mr. Norrell. Wenn Clegg das Buch noch gehabt oder gewusst hätte, wo es ist, dann hätte er es bestimmt zu seinem Prozess mitgebracht oder versucht, es gegen sein Leben einzutauschen.«
»Und wenn Vinculus vom Diebstahl seines Vaters so großen Nutzen gehabt hätte«, fügte Childermass hinzu, »warum hasste er dann seinen Vater? Warum freute er sich so, als sein Vater gehängt wurde? Robert Findhelm war ziemlich sicher, dass das Buch vernichtet worden war – so viel steht fest. Nan erzählte mir, Clegg sei gehängt worden, weil er ein Buch gestohlen hatte, aber Robert Findhelms Anklage gegen ihn lautete nicht auf Diebstahl. Robert Findhelms Anklage gegen ihn lautete auf Buchmord. Clegg war der letzte Mensch in England, der wegen Buchmord gehängt wurde.« 68
»Aber warum behauptet Vinculus, er besitze dieses Buch, wenn sein Vater es gegessen hat?«, sagte Lascelles nachdenklich. »Da stimmt etwas nicht.«
»Irgendwie geriet Robert Findhelms Erbe an Vinculus, aber wie genau das geschah – das kann ich mir nicht erklären«, sagte Childermass.
»Was ist mit dem Mann in Derbyshire?«, fragte Mr. Norrell plötzlich. »Du sagtest, Findhelm wollte das Buch einem Mann in Derbyshire bringen lassen.«
Childermass seufzte. »Ich bin auf meinem Rückweg nach London durch Derbyshire geritten und habe das Dorf Bretton aufgesucht. Drei Häuser und ein Gasthaus auf einem kahlen Hügel. Wer auch immer es war, den Clegg dort aufsuchen sollte – er ist schon lange tot. Ich konnte dort nichts herausfinden.«
Stephen Black und der Herr mit dem Haar wie Distelwolle saßen im ersten Stock von Mr. Whartons Kaffeehaus in der Oxford Street, wo sich die Jungs vorm Tagesanbruch trafen.
Der Herr sprach, wie so häufig, von seiner tiefen Zuneigung zu Stephen. »Da fällt mir ein«, sagte er, »dass ich Sie schon seit Monaten um Verzeihung bitten und Ihnen etwas erklären wollte.«
»Mir etwas erklären, Sir?«
»Ja, Stephen. Sie und ich wünschen nichts so sehr, als dass Lady Pole glücklich ist, doch zwingen mich die Bedingungen meines üblen Vertrags mit dem Zauberer, sie jeden Morgen zu ihrem Gatten nach Hause zu bringen, wo sie sich den ganzen Tag bis zum Abend die Zeit vertreiben muss. Aber so schlau wie Sie sind, haben Sie sicherlich schon festgestellt, dass es keine solchen Beschränkungen für Sie gibt. Und vermutlich fragen Sie sich, warum ich Sie nicht mitnehme nach Verlorene Hoffnung, damit Sie dort für immer glücklich werden.«
»Das habe ich mich in der Tat gefragt,
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