Jonathan Strange & Mr. Norrell
beschränkte sich nicht auf die Kathedrale, sondern erstreckte sich bis in die Stadt. Drei Statuen von der Westfassade waren in Mr. Taylors Werkstatt gebracht worden, um restauriert zu werden. Jahrhunderte von Yorkshire-Regen hatten ihre Gesichter bis zur Unkenntlichkeit verwaschen, und niemand wusste mehr, welche großen Persönlichkeiten sie darstellen sollten. Um halb elf hob einer von Mr. Taylors Steinmetzen den Meißel an das Gesicht einer dieser Statuen, um es zu dem einer hübschen Heiligen zu modellieren; in diesem Augenblick schrie die Statue laut auf und hob die Arme, um den Meißel abzuwehren, woraufhin der arme Handwerker in Ohnmacht fiel. Die Statuen wurden später unverändert wieder an der Westseite der Kathedrale angebracht, ihre Gesichter so flach wie Kekse und so nichts sagend wie Butter.
Dann veränderte sich der Lärm plötzlich, und eine Stimme nach der anderen verstummte, bis die Zauberer erneut die Glocken von St.-Michael-le-Belfrey die halbe Stunde schlagen hörten. Die erste Stimme (die Stimme der kleinen Gestalt ganz oben in der Dunkelheit) redete noch eine Weile, nachdem die anderen bereits schwiegen, wie zuvor über dasselbe Thema, den nicht gefundenen Mörder (Es ist noch nicht zu spät! Es ist noch nicht zu spät!) , bis auch sie verstummte.
Während die Zauberer in der Kirche gewesen waren, hatte sich die Welt verändert. Die Zauberei war nach England zurückgekehrt, ob es den Zauberern nun gefiel oder nicht. Verwandlungen prosaischerer Natur hatten ebenfalls stattgefunden: Der Himmel war überzogen von schweren Schneewolken. Sie waren nicht grau, sondern von einer merkwürdigen Farbe zwischen Schieferblau und Meergrün. Dank dieser erstaunlichen Färbung herrschte ein Zwielicht, wie man es sich für gewöhnlich in sagenhaften Unterwasserreichen vorstellt.
Das Abenteuer hatte Mr. Segundus sehr ermüdet. Andere Herren hatten mehr Angst gehabt als er; er hatte Zauberei gesehen und sie als wunderbarer empfunden, als er es sich je erträumt hatte, und jetzt, da es vorbei war, war sein Geist höchst erregt, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als ungestört nach Hause gehen zu können, ohne mit jemandem sprechen zu müssen. In diesem empfindlichen Zustand wurde er von Mr. Norrells Mann der Geschäfte aufgehalten und angesprochen.
»Ich glaube, Sir«, sagte Mr. Childermass, »dass die Gilde sich jetzt auflösen muss. Das ist bedauerlich.«
Vielleicht lag es ausschließlich an seiner Niedergeschlagenheit, dass Mr. Segundus vermutete, Mr. Childermass mache sich trotz seines überaus respektvollen Verhaltens insgeheim über die Zauberer von York lustig. Childermass gehörte zu der unangenehmen Sorte von Menschen, die von niederer Geburt sind und deren Schicksal es ist, ihr Leben lang Höherstehenden zu dienen, deren Intelligenz und Geschick sie jedoch nach Anerkennung und Belohnungen streben lassen, die sich jenseits ihrer Reichweite befinden. Durch eine eigentümliche Kombination glücklicher Umstände finden diese Männer bisweilen zu eigener Größe, aber weit häufiger verbittert sie der Gedanke, was hätte sein können; sie werden zu unwilligen Dienstboten und erledigen ihre Aufgaben auch nicht besser – oder schlechter – als ihre weniger fähigen Kollegen. Sie werden unverschämt, verlieren ihre Arbeit und nehmen ein böses Ende.
»Bitte entschuldigen Sie, Sir«, sagte Childermass, »aber ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Ich hoffe, Sie empfinden es nicht als anmaßend, aber ich würde gern wissen, ob Sie hin und wieder eine Londoner Zeitung lesen?« Mr. Segundus bejahte.
»Wirklich? Das ist sehr interessant. Ich selbst mag Zeitungen. Aber ich habe wenig Zeit zum Lesen – abgesehen von den Büchern, die ich bei der Erfüllung meiner Pflichten für Mr. Norrell in die Hand bekomme. Und was steht heutzutage in einer Londoner Zeitung? Bitte entschuldigen Sie meine Frage, Sir, aber Mr. Norrell, der selbst nie in eine Zeitung schaut, hat mich das gestern gefragt, und ich hielt mich nicht für qualifiziert genug, um zu antworten.«
»Nun«, sagte Mr. Segundus ein bisschen verwirrt, »es stehen alle möglichen Dinge darin. Was möchten Sie wissen? Es gibt Berichte über die Aktionen der Kriegsflotte Seiner Majestät gegen die Franzosen, über Reden der Regierung, Meldungen über Skandale und Scheidungen. Meinen Sie das?«
»Ja, genau«, sagte Childermass. »Sie erklären das sehr gut, Sir. Ich frage mich«, fuhr er nachdenklich fort, »ob Nachrichten aus der Provinz in
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