Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
Vom Netzwerk:
verschwören sich in allen Märchen die Umstände gegen die Person, die diese Anweisungen erhält, und sie tut genau das, was ihr verboten wurde, und bringt damit ein schreckliches Schicksal über sich.
    Das Mindeste, was die Zauberer vermuteten, war, dass ihnen langsam ihr Untergang vorgetragen wurde. Aber es war überhaupt nicht klar, in welcher Sprache die Stimme redete. Einmal glaubte Mr. Segundus, das Wort »maliziös« zu hören, und ein anderes Mal »interficere«, ein altes lateinisches Wort, das »töten« bedeutet. Die Stimme war nicht einfach zu verstehen; sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einer menschlichen Stimme – und das bestärkte die Herren in der Furcht, dass gleich Elfen auftauchen würden. Die Stimme war ungewöhnlich harsch, tief und schnarrend; es war, als würden zwei raue Steine aneinander gerieben, aber die Laute, die sie von sich gab, sollten eindeutig Sprache sein, ja, sie waren Sprache. In ängstlicher Erwartung spähten die Herren in die Düsternis empor, aber zu sehen war nur die kleine schattenhafte Form einer steinernen Figur, die aus dem Schaft einer riesigen Säule in die dunkle Leere ragte. Nachdem sie sich an die sonderbaren Laute gewöhnt hatten, verstanden sie mehr und mehr Wörter; alte englische Wörter und alte lateinische Wörter waren miteinander vermischt, als wüsste der Sprecher nicht, dass es sich um zwei unterschiedliche Sprachen handelte. Glücklicherweise hatten die Zauberer mit diesem entsetzlichen Durcheinander kaum Schwierigkeiten, da es die meisten gewohnt waren, die weitschweifigen Ausführungen der Schriften längst verstorbener Gelehrter zu entwirren. Übersetzt in deutliches, verständliches Englisch sagte die Stimme ungefähr: Vor langer, langer Zeit, an einem Wintertag zur Abenddämmerung vor fünfhundert Jahren oder mehr, betrat ein junger Mann die Kirche gemeinsam mit einem Mädchen mit Efeuranken im Haar. Außer ihnen waren nur die Steine da. Nur die Steine sahen, wie er sie erwürgte. Er ließ sie tot auf die Steine sinken, und nur die Steine sahen es. Er wurde für seine Sünde nie bestraft, denn außer den Steinen gab es keine Zeugen. Die Jahre vergingen, und wann immer der Mann die Kirche betrat und sich unter die Gläubigen mischte, riefen die Steine aus, dass dies der Mann war, der das Mädchen mit den Efeuranken im Haar ermordet hatte, aber niemand hörte uns. Aber es ist noch nicht zu spät! Wir wissen, wo er begraben ist. In der Ecke des südlichen Querschiffs. Schnell! Schnell! Holt Pickel! Holt Schaufeln! Reißt die Steine aus dem Boden! Grabt seine Knochen aus! Zertrümmert sie mit der Schaufel! Zerschmettert seinen Schädel an den Säulen! Lasst auch die Steine Rache nehmen! Es ist noch nicht zu spät! Es ist noch nicht zu spät!
    Kaum hatten die Zauberer das verdaut und sich noch einmal gefragt, wer da sprach, als eine andere steinerne Stimme ansetzte. Diese Stimme schien sich von der Kanzel an sie zu wenden und sprach nur englisch; aber es war ein eigentümliches Englisch voller alter vergessener Wörter. Die Stimme beschwerte sich über Soldaten, die die Kirche betreten und mehrere Fenster zerbrochen hatten. Hundert Jahre später waren sie erneut gekommen und hatten einen Lettner zerbrochen, die Gesichter der Heiligen abgeschlagen und Silbergeschirr mitgenommen. Einmal schärften sie ihre Pfeilspitzen am Rand des Taufsteins; dreihundert Jahre später feuerten sie ihre Pistolen im Domkapitel ab. Die zweite Stimme schien nicht zu wissen, dass große Kirchen zwar jahrtausendelang bestehen können, Menschen jedoch nicht so lange leben. »Zerstörung bereitet ihnen Vergnügen!«, rief sie. »Und sie selbst verdienen, vernichtet zu werden!« Wie der erste schien auch dieser Sprecher seit zahllosen Jahren in der Kirche zu stehen und hatte vermutlich unzählige Predigten und Gebete gehört, aber die schönsten christlichen Tugenden – Barmherzigkeit, Liebe, Demut – waren ihm unbekannt. Und die ganze Zeit über beklagte die erste Stimme das tote Mädchen mit den Efeuranken im Haar, und die zwei knirschenden Stimmen prallten zusammen auf eine Art, die höchst unangenehm war.
    Mr. Thorpe, der ein mutiger Mann war, bestieg die Kanzel, um nachzusehen, wer da sprach. »Es ist eine Statue«, sagte er.
    Und dann blickten die Herren der Gilde von York wieder in die Schatten über ihren Köpfen, in die Richtung der ersten unirdischen Stimme. Und diesmal zweifelte kaum einer, dass es die kleine steinerne Figur war, die sprach, denn sie sahen, dass

Weitere Kostenlose Bücher