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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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schrilles Lachen aus. »Mein lieber Stephen! Wir sind doch gerade erst angekommen. Vor einem Augenblick waren Sie noch in Lady Poles Haus und mussten auf Geheiß ihres bösen Mannes eine niedere Arbeit verrichten.«
    »Oh!«, sagte Stephen. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, dass er in seinem kleinen Zimmer neben der Küche Silber geputzt hatte, aber das schien Jahre her zu sein.
    Er sah sich um. Hier war nichts, was er wiedererkannte. Sogar der Geruch der Stadt – eine Mischung aus Gewürzen, Kaffee, verfaulendem Gemüse und gebratenem Fleisch – war neu für ihn.
    Er seufzte. »Es ist der Zauber, Sir. Er ist so sehr verwirrend.«
    Der Herr drückte ihm liebevoll den Arm.
    Die Stadt schien auf einem steilen Hang erbaut zu sein. Es gab keine richtigen Straßen, sondern nur schmale Gassen, meist Treppen, die zwischen den Häusern hinauf- und hinunterführten. Die Häuser waren von großer Schlichtheit, ja, man könnte sagen, Strenge. Die Mauern waren aus Erde oder Lehm, weiß gestrichen, die Eingänge hatten schlichte Holztüren und die Fenster schlichte hölzerne Läden. Auch die Treppen waren geweißt. In der ganzen Stadt schien es nicht einen Farbfleck zu geben, der das Auge erfreut hätte: keine Blume in einem Topf auf einem Fensterbrett, kein buntes Spielzeug, das ein Kind in einem Eingang hätte liegen lassen. Durch diese engen Gassen zu gehen, dachte Stephen, war, als würde man sich in den Falten einer riesigen Leinenserviette verirren.
    Es war unheimlich still. Als sie die schmalen Stufen hinauf- und hinunterstiegen, hörten sie das Gemurmel ernster Gespräche aus den Häusern, aber kein Lachen, kein Lied, keine aufgeregte Kinderstimme. Hin und wieder begegneten sie einem Bewohner der Stadt; ernsten Männern mit dunklen Gesichtern, gekleidet in weiße Gewänder und weiße lange Hosen und mit einem weißen Turban auf dem Kopf. Alle trugen Spazierstöcke – auch die jungen Männer –, aber wirklich jung schien keiner von ihnen zu sein; die Bewohner dieser Stadt waren alt geboren.
    Sie sahen nur eine Frau (zumindest behauptete der Herr mit dem Haar wie Distelwolle, dass es eine Frau war). Sie stand neben ihrem Mann, vom Kopf bis zu den Zehenspitzen verhüllt von einem Kleidungsstück in der Farbe der Schatten. Als Stephen sie erblickte, wandte sie ihm den Rücken zu. Es schien zur traumähnlichen Atmosphäre des Orts zu passen, dass ihr Gesicht, als sie sich langsam umwandte, gar kein Gesicht war, sondern ein dicht besticktes Gitterwerk aus Stoff von derselben düsteren Farbe wie der Rest des Gewands.
    »Diese Leute sind sehr merkwürdig«, flüsterte Stephen. »Aber sie scheinen über unser Auftauchen nicht überrascht.«
    »Oh«, sagte der Herr, »es ist Teil meines Zaubers, dass Sie und ich genauso aussehen wie sie. Sie sind überzeugt, dass sie uns seit Kindertagen kennen. Außerdem werden Sie feststellen, dass Sie ihre Sprache verstehen, und sie werden Sie verstehen, obwohl sie eine obskure Sprache sprechen, die für ihre eigenen Landsleute in fünfundzwanzig Meilen Entfernung kaum mehr verständlich ist.«
    Und vermutlich, dachte Stephen, war es auch Teil des Zaubers, dass die Bewohner nicht merkten, wie laut der Herr sprach und wie seine Worte zwischen den weißen Mauern widerhallten.
    Die Treppe, die sie hinuntergingen, bog um eine Ecke und endete abrupt vor einer niedrigen Mauer, die unachtsame Fußgänger davor bewahrte, den Hügel hinabzustürzen. Von hier aus war die Landschaft zu sehen. Ein trostloses Tal aus weißen Felsen erstreckte sich unter einem wolkenlosen Himmel vor ihnen. Ein heißer Wind wehte darüber. Es war eine fleischlose, knöcherne Welt.
    Stephen hätte angenommen, dass dieser Ort ein Traum oder Teil des Zaubers war, hätte der Herr mit dem Haar wie Distelwolle ihn nicht aufgeregt davon in Kenntnis gesetzt, dass dies »... Afrika ist! Das Land Ihrer Vorväter, mein lieber Stephen.«
    Aber, dachte Stephen, meine Vorfahren haben nicht hier gelebt, dessen bin ich sicher. Diese Menschen sind dunkler als die Engländer, aber sie sind wesentlich heller als ich. Vermutlich sind es Araber. Laut sagte er: »Wohin gehen wir, Sir?«
    »Wir wollen uns den Markt ansehen, Stephen.«
    Darüber freute sich Stephen. Die Stille und die Leere waren bedrückend. Auf dem Markt würden Lärm und Geschäftigkeit herrschen.
    Doch der Markt dieser Stadt erwies sich als überaus befremdlich. Er fand in der Nähe eines riesigen hölzernen Tors neben der hohen Stadtmauer statt. Es gab keine Stände,

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