Jonathan Strange & Mr. Norrell
Armeen! Wenn Sie Brüssel versetzen, dann sind Sie verantwortlich für die Regimenter, die von den Gebäuden und den Pflastersteinen zerquetscht werden. Der Herzog wird sich nicht darüber freuen. Er braucht jeden einzelnen Mann.«
Strange dachte weiter nach. »Ich hab's!«, rief er aus.
Eine kleine Brise wehte vorbei. Sie war nicht unangenehm -vielmehr brachte sie den erfrischenden Duft des Atlantiks mit sich. Hardley-Bright blickte aus dem Fenster. Jenseits der Häuser, Kirchen, Paläste und Parks erhoben sich Bergrücken, die eben noch nicht dort gewesen waren. Sie waren schwarz, als wären sie mit Kiefern bewachsen. Die Luft war viel frischer – wie Luft, die noch nie geatmet worden war.
»Wo sind wir?«, fragte Hadley-Bright.
»Amerika«, sagte Strange. Und dann fügte er als Erklärung hinzu: »Auf den Landkarten sieht es immer so leer aus.«
»Ach, du lieber Gott! Das ist auch nicht besser als vorhin. Haben Sie vergessen, dass wir gerade erst ein Friedensabkommen mit Amerika unterzeichnet haben? Nichts wird Amerikas Missfallen so sehr erregen wie das Auftauchen einer europäischen Stadt auf seinem Boden!«
»Wahrscheinlich. Aber ich versichere Ihnen, es gibt keinen Grund zur Sorge. Wir sind weit entfernt von Washington oder New Orleans oder irgendeinem dieser Orte, an denen Schlachten stattgefunden haben. Mehrere hundert Meilen, nehme ich an. Zumindest..., das heißt, ich bin nicht sicher, wo genau wir sind. Glauben Sie, das macht etwas?« 95
Hadley-Bright stürmte hinaus, um den Herzog zu suchen und ihm zu berichten, dass die Franzosen, anders als angenommen, nun in Belgien waren – im Gegensatz zu ihm, dem Herzog.
Seine Durchlaucht (der zufällig gerade mit britischen Politikern und belgischen Komtessen Tee trank) nahm die Neuigkeiten in seiner üblichen ungerührten Art auf. Doch eine halbe Stunde später tauchte er mit dem Generalquartiermeister, Oberst De Lancey, in Stranges Hotel auf. Mit grimmigem Gesichtsausdruck blickte er auf die Vision in der Silberschale. »Napoleon hat mich hereingelegt, bei Gott!«, rief er aus. »De Lancey, Sie müssen die Befehle so schnell wie möglich niederschreiben. Wir müssen die Armee in Quatre Bras versammeln.«
Der arme Oberst De Lancey sah ziemlich beunruhigt aus. »Aber wie sollen wir die Befehle an die Offiziere übergeben, wo doch der ganze Atlantik zwischen uns liegt?«, fragte er.
»Oh«, sagte Seine Durchlaucht. »Mr. Strange wird sich darum kümmern.« Sein Auge blieb an einer Szene außerhalb des Fensters hängen. Vier Männer auf Pferden ritten vorbei. Sie verhielten sich wie Könige und sahen aus wie Kaiser. Ihre Haut war mahagonifarben; ihr langes Haar war rabenschwarz wie schimmernder Gagat. Sie trugen Häute, die mit den Stacheln von Stachelschweinen geschmückt waren. Jeder von ihnen war mit einem Gewehr in einem Lederhalter, einem Furcht erregenden Speer (der, genau wie ihre Köpfe, mit Federn versehen war) und einem Bogen ausgestattet. »Ach, und De Lancey! Seien Sie so nett und finden Sie jemanden, der diese Kerle fragt, ob sie Lust haben, morgen zu kämpfen. Sie sehen so aus, als verstünden sie etwas von dem Geschäft.«
Etwa eine Stunde später nahm ein pâtissier in Ath, einer Stadt, die zwanzig Meilen von Brüssel (vielmehr von da, wo Brüssel für gewöhnlich lag) entfernt war, ein Blech mit kleinen Kuchen aus dem Ofen. Nachdem die Kuchen abgekühlt waren, schrieb er mit rosa Zuckerguss auf jeden einen Buchstaben – etwas, was er in seinem Leben noch nie getan hatte. Seine Frau (die kein Wort Englisch sprach) legte die Kuchen auf ein Holztablett und gab das Tablett dem sous-pâtissier . Der sous-pâtissier trug es in die Stadt zum Hauptquartier der alliierten Armee, wo Sir Henry Clinton die Befehle an seine Offiziere ausgab. Der sous-pâtissier zeigte Sir Henry die Kuchen. Sir Henry nahm sich einen und wollte ihn gerade in den Mund stecken, als Major Norcott von den 95. Rifles überrascht aufschrie. Direkt vor ihnen, in rosa Zuckerguss auf die kleinen Kuchen geschrieben, lag eine Depesche von Wellington, die Sir Henry anwies, die 2. Infanteriedivision so schnell wie möglich nach Quatre Bras zu verlegen. Sir Henry sah erstaunt auf. Der sous-pâtissier strahlte ihn an.
Etwa um die gleiche Zeit war der befehlshabende General der 3. Division – ein Herr aus Hannover namens Sir Charles Alten – fleißig bei der Arbeit in einem château etwa fünfundzwanzig Meilen südwestlich von Brüssel. Er blickte zufällig aus dem Fenster und
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