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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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blicken.
    Eines heißen, schwülen Tages Mitte Juni saßen sie an dieser nicht enden wollenden Aufgabe. Es war etwa drei Uhr. Der Kellner hatte vergessen, ein paar schmutzige Kaffeetassen abzuräumen, und eine Fliege summte um sie herum. Vom Fenster her wehte eine Geruchsmischung aus Pferdeschweiß, Pfirsichen und saurer Milch herein. Hadley-Bright hockte auf einem Stuhl und führte eine der wichtigsten Fähigkeiten eines Soldaten vor, die er nahezu perfekt beherrschte: unter jedweden Umständen zu jedweder Zeit einzuschlafen.
    Strange warf einen Blick auf seine Landkarte und wählte einen willkürlichen Ausschnitt. Im Wasser seiner Silberschale erschien eine ruhige Kreuzung; in ihrer Nähe befanden sich ein Bauernhof und zwei oder drei Häuser. Er beobachtete die Szene einen Augenblick lang. Nichts geschah. Seine Augen fielen zu, und er war kurz davor, einzudösen, als Soldaten zwischen ein paar Ulmen ein Geschütz in Stellung brachten. Sie machten einen ziemlich geschäftigen Eindruck. Er gab Hadley-Bright einen Tritt, um ihn aufzuwecken. »Was sind das für Kerle?«, fragte er.
    Hadley-Bright blinzelte in die Silberschale.
    Die Soldaten an der Wegkreuzung trugen grüne Röcke mit roten Besätzen. Plötzlich schienen es sehr viele zu sein.
    »Nassauer«, sagte Hadley-Bright und bezeichnete damit eine von Wellingtons deutschen Truppeneinheiten. »Die Jungs des Prinzen von Oranje. Kein Grund zur Sorge. Wo schauen Sie gerade hin?«
    »Eine Kreuzung zwanzig Meilen südlich der Stadt. Der Ort heißt Quatre Bras.«
    »Ach! Damit muss man keine Zeit vertun«, erklärte Hadley-Bright gähnend. »Das liegt auf der Straße nach Charleroi. Die preußische Armee befindet sich an ihrem anderen Ende – so wurde mir zumindest berichtet. Ich frage mich, ob die Burschen überhaupt dort sein sollen?« Er begann die Papiere durchzublättern, auf denen die Stellungen der alliierten Armee verzeichnet waren. »Nein, ich glaube eigentlich nicht...«
    »Und was ist das ? « , unterbrach ihn Strange und deutete auf einen Soldaten in einem blauen Rock, der plötzlich auf der gegenüberliegenden Erhebung auftauchte und seine Muskete in Anschlag brachte.
    Eine winzige Pause folgte. »Ein Franzose«, sagte Hadley-Bright.
    »Soll er dort sein?«, fragte Strange.
    Zu dem Franzosen gesellte sich ein zweiter. Dann tauchten fünfzig weitere auf. Aus den fünfzig wurden hundert – dreihundert – tausend! Auf dem Abhang schienen Franzosen zu gedeihen wie Maden im Käse. Im nächsten Moment fingen alle an, mit ihren Musketen auf die Nassauer an der Kreuzung zu schießen. Das Gefecht dauerte nicht lange. Die Nassauer feuerten ihre Kanonen ab. Die Franzosen, die anscheinend über keine Kanonen verfügten, zogen sich hinter den Hügel zurück.
    »Ha!«, rief Strange erfreut aus. »Sie wurden geschlagen. Sie sind weggelaufen.«
    »Ja, aber woher sind sie überhaupt gekommen?«, murmelte Hadley-Bright. »Können Sie hinter diesen Hügel gucken?«
    Strange tippte das Wasser an und machte eine Drehbewegung über der Oberfläche. Die Kreuzung verschwand, und an ihrer Stelle erschien ein hervorragender Ausblick auf die französische Armee – nun, nicht auf die ganze Armee, aber dennoch auf einen wesentlichen Teil von ihr.
    Hadley-Bright ließ sich wie eine Marionette, deren Fäden durchschnitten worden waren, auf den Stuhl fallen. Strange fluchte auf Spanisch (eine Sprache, die er spontan mit dem Krieg verband). Die alliierten Armeen waren am völlig falschen Ort. Wellingtons Divisionen waren im Westen bereit, alle möglichen Orte bis aufs Blut zu verteidigen, die Buonaparte nicht anzugreifen beabsichtigte. General Blücher und die preußische Armee standen viel zu weit im Osten. Und hier tauchte die französische Armee plötzlich im Süden auf. So, wie sich die Lage im Moment präsentierte, befanden sich zwischen Brüssel und den Franzosen lediglich die Nassauer (die insgesamt etwa drei- oder viertausend Mann stark waren).
    »Mr. Strange! Tun Sie etwas, ich flehe Sie an!«, schrie Hadley-Bright.
    Strange atmete tief ein und breitete seine Arme aus, als wollte er all die Zauberei sammeln, die er je gelernt hatte.
    »Schnell, Mr. Strange! Schnell!«
    »Ich könnte die Stadt versetzen«, sagte Strange. »Ich könnte Brüssel versetzen. Ich könnte es dorthin versetzen, wo die Franzosen es nicht finden.«
    »Wohin versetzen?«, schrie Hadley-Bright, packte Stranges Hände und zog sie wieder nach unten. »Wir sind von Armeen umgeben. Von unseren eigenen

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