Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
Vom Netzwerk:
sein Blick auf Stephen fiel, sagte er–
    Genau in diesem Moment erklang ein hoher, sorgenvoller Ton in Stephens Traum – ein langsames, trauriges Lied in einer fremden Sprache, und Stephen verstand, ohne wirklich aufzuwachen, dass es der Herr mit dem Haar wie Distelwolle war, der sang.
    Wenn ein Mensch zu singen beginnt, dann, so besagt eine grundsätzliche Regel, wird außer anderen Menschen niemand auf das Lied achten. Das trifft auch dann zu, wenn das Lied unvergleichlich schön ist. Andere Menschen mögen über seine Fähigkeiten in Begeisterungsstürme ausbrechen, doch der Rest der Schöpfung lässt sich davon im Großen und Ganzen nicht aus der Ruhe bringen. Vielleicht schenkt ihm eine Katze oder ein Hund einen kurzen Blick; sein Pferd mag, falls es sich um ein außergewöhnlich intelligentes Tier handelt, kurz mit dem Grasen aussetzen, aber damit hat es sich auch. Doch als der Elf sang, hörte ihm die ganze Welt zu. Stephen spürte, wie vorüberziehende Wolken stehen blieben; er spürte, wie schlafende Hügel sich regten und murmelten; er spürte, wie kalte Nebel tanzten. Er verstand zum ersten Mal, dass die Welt alles andere als taub ist und lediglich darauf wartet, in einer für sie verständlichen Sprache angesprochen zu werden. Im Lied des Elfen entdeckte die Welt die Namen wieder, die sie sich selbst gegeben hatte.
    Stephen begann wieder zu träumen. Diesmal träumte er, dass die Hügel wanderten und der Himmel schluchzte. Bäume kamen zu ihm und sprachen ihn an und erzählten ihm ihre Geheimnisse und ob sie seine Freunde oder Feinde waren. Wichtige Schicksale versteckten sich in Kieselsteinen und vertrockneten Blättern. Er träumte, dass jedes Ding in der Welt – Steine und Flüsse, Blätter und Feuer – einen Zweck hatte, den es fest entschlossen und mit Entschiedenheit verfolgte, aber er begriff auch, dass es manchmal möglich war, Dinge zu einem anderen Zweck zu überreden.
    Als er erwachte, war die Morgendämmerung angebrochen. Oder eine Art Dämmerung. Das Licht war wässrig, fahl und unvergleichlich traurig. Weite, graue, düstere Hügel erhoben sich rings um sie herum, und zwischen den Hügeln breitete sich eine riesige Sumpffläche aus. Stephen hatte noch nie eine Landschaft gesehen, die so darauf ausgerichtet war, den Betrachter augenblicklich mit tiefer Verzweiflung zu erfüllen.
    »Das ist eins Ihrer Königreiche, nehme ich an, Sir?«, sagte er.
    »Eins meiner Königreiche?«, rief der Herr überrascht aus. »Aber nein. Das ist Schottland!«
    Der Herr verschwand plötzlich – und tauchte einen Augenblick später, die Arme mit Werkzeug beladen, wieder auf. Er trug eine Axt, einen Spieß und drei Dinge, die Stephen noch nie zuvor gesehen hatte. Eines ähnelte ein wenig einer Hacke, eines ähnelte ein wenig einem Spaten und das Letzte war ein sehr seltsamer Gegenstand, irgendetwas zwischen Spaten und Sense. Er überreichte sie alle Stephen, der sie mit verwirrtem Gesichtsausdruck untersuchte. »Sind die Sachen neu, Sir? Sie glänzen so schön.«
    »Nun, natürlich kann man für solch ein Zaubervorhaben, wie ich es vorschlage, keine Werkzeuge aus einfachem Metall verwenden. Diese hier bestehen aus einer Mischung aus Quecksilber und Sternenlicht. Also, Stephen, wir müssen nach einer Stelle am Boden suchen, die noch nicht mit Tau benetzt ist, und wenn wir dort graben, dann finden wir mit Sicherheit Mooreiche.«
    Sämtliche Gräser und all die winzigen farbigen Sumpfgewächse waren mit Tau bedeckt. Stephens Kleidung, Hände, Haar und Haut trugen einen samtenen Schleier, und das Haar des Herrn – das ohnehin außergewöhnlich war –, leuchtete über seinen gewöhnlichen Schimmer hinaus noch im Glanz von Millionen winziger Wasserkügelchen. Er schien einen juwelenbesetzten Glorienschein zu tragen.
    Der Herr wanderte langsam durch den Sumpf, die Augen auf den Boden gerichtet. Stephen folgte ihm.
    »Aha!«, rief der Herr. »Da haben wir's!«
    Woher der Herr das wusste, konnte Stephen nicht sagen.
    Sie standen mitten im Sumpf. Es gab keinen Baum oder Fels in der Nähe, der die Stelle kennzeichnete. Doch der Herr schritt guten Mutes voran, bis er zu einer kleinen Mulde kam. In der Mitte der Mulde befand sich ein langer, breiter Streifen, der gänzlich frei von Tau war.
    »Graben Sie hier, Stephen!«
    Der Herr bewies überraschende Kenntnisse in der Kunst des Torfstechens. Und obwohl er von der eigentlichen Arbeit nichts selbst ausführte, wies er Stephen umsichtig an, wie man die oberste Schicht

Weitere Kostenlose Bücher