Jonathan Strange & Mr. Norrell
Entrinnen. Er war gefangen zwischen Himmel und Erde wie zwischen zwei Händen. Sie konnten ihn zerdrücken, wenn sie wollten .
Wieder sprach der Himmel zu ihm .
»Ich verstehe nicht«, sagte er .
Er blinzelte und sah, dass Lucas sich über ihn beugte. Er atmete keuchend. Er streckte die Hand aus und berührte etwas neben sich. Er wandte sich um und erblickte zu seinem Erstaunen das Bein eines Stuhls. Er lag auf dem Boden. »Was...?«, fragte er.
»Sie sind in der Bibliothek, Sir«, sagte Lucas. »Ich glaube, Sie sind ohnmächtig geworden.«
»Hilf mir auf. Ich muss mit Norrell reden.«
»Aber ich habe Ihnen bereits gesagt, Sir...«
»Nein«, erwiderte Childermass. »Du täuschst dich. Er muss hier sein. Er muss. Bring mich nach oben.«
Lucas half ihm auf und aus dem Zimmer, aber als sie die Treppe erreichten, brach Childermass fast wieder zusammen. Deswegen rief Lucas nach Matthew, dem anderen Diener, und gemeinsam stützten sie ihn und trugen ihn halb in das kleine Studierzimmer im zweiten Stock, in dem Mr. Norrell seine ganz privaten Zaubereien betrieb.
Lucas öffnete die Tür. Im Kamin brannte ein Feuer. Federn, Federmesser, Federhalter und Bleistifte lagen ordentlich in einer kleinen Schale. Das Tintenfass war gefüllt und mit einer silbernen Kappe verschlossen. Bücher und Merkhefte standen ordentlich aufgereiht da oder waren aufgeräumt. Alles war abgestaubt und poliert, und es herrschte eine tadellose Ordnung. Mr. Norrell war ganz eindeutig heute Morgen nicht hier gewesen.
Childermass stieß die Diener weg. Er stand da und schaute sich verwirrt um.
»Sehen Sie, Sir?«, sagte Lucas. »Es ist, wie ich Ihnen gesagt habe. Der Herr ist in der Admiralität.«
»Ja«, sagte Childermass.
Aber er verstand es nicht. Wenn der unheimliche Zauber nicht von Norrell stammte, von wem dann? »War Strange hier?«, fragte er.
»Natürlich nicht!« Lucas war empört. »Ich weiß hoffentlich besser um meine Pflichten, als Strange ins Haus zu lassen. Sie sehen noch immer unwohl aus, Sir. Lassen Sie mich nach dem Arzt schicken.«
»Nein, nein. Es geht mir besser. Viel besser. Hilf mir zu einem Stuhl.« Childermass ließ sich seufzend auf einen Stuhl fallen. »Warum um alles in der Welt starrt ihr beide mich so an?« Er winkte sie fort. »Matthew, hast du keine Arbeit? Lucas, hol mir ein Glas Wasser.«
Er war noch immer benommen und unwohl, aber die Übelkeit in seinem Magen war nicht mehr so schlimm. Er konnte sich die Landschaft in allen Einzelheiten vorstellen. Das Bild war in seinen Kopf eingebrannt. Er schmeckte ihre Einsamkeit, ihre Anderweltlichkeit, aber er fürchtete sich nicht länger, sich darin zu verlieren. Er konnte denken.
Lucas kehrte mit einem Tablett mit einem Weinglas und einer Karaffe voll Wasser zurück. Er schenkte das Glas voll, und Childermass trank es aus.
Childermass kannte einen Zauber. Es war ein Zauber, der Zauberei aufspürte. Man erfuhr nicht, was für ein Zauber von wem betrieben wurde, sondern nur, ob Zauberei stattfand oder nicht. Zumindest war er dafür gedacht. Childermass hatte ihn nur ein einziges Mal angewandt, und damals war nichts festzustellen gewesen. Er wusste nicht, ob er wirkte oder nicht.
»Schenk das Glas noch einmal voll«, sagte er zu Lucas.
Lucas tat es.
Diesmal trank Childermass nicht. Stattdessen murmelte er ein paar Worte in das Glas. Dann hielt er es gegen das Licht, spähte hindurch und drehte sich langsam um die eigene Achse, bis er das ganze Zimmer durch das Glas betrachtet hatte.
Es war nichts.
»Ich weiß nicht einmal, wonach ich suche«, murmelte er. Dann wandte er sich an Lucas. »Komm. Ich brauche deine Hilfe.«
Sie kehrten in die Bibliothek zurück. Childermass hob das Glas, sagte den Zauberspruch und schaute hindurch.
Nichts.
Er näherte sich dem Fenster. Einen Augenblick lang glaubte er, etwas am Boden des Glases zu sehen, eine Perle aus weißem Licht.
»Es ist auf dem Square«, sagte er.
»Was ist auf dem Square?«, fragte Lucas.
Childermass antwortete nicht. Stattdessen blickte er aus dem Fenster. Schnee lag auf den schmutzigen Pflastersteinen des Hanover Square. Die schwarzen Gitterstäbe, die den Platz in der Mitte umgaben, zeichneten sich scharf gegen das Weiß ab. Es schneite noch immer und es ging ein beißender Wind. Trotzdem befanden sich mehrere Personen auf dem Square. Es war wohl bekannt, dass Mr. Norrell am Hanover Square lebte, und manche Leute kamen in der Hoffnung, einen Blick auf ihn zu werfen. Jetzt standen ein Herr und
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