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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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erinnerte sich Miss Greysteel bestimmt an eine Gelegenheit, zu der Strange in Lyme Regis gegessen hatte.
    Am Abend des dritten Tages schickte Dr. Greysteel Strange eine Nachricht und schlug vor, zusammen einen Kaffee und ein Glas italienischen Branntwein zu trinken. Sie trafen sich kurz nach sechs im Florian.
    »Ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte Dr. Greysteel. »Aber Sie sind blass. Haben Sie daran gedacht zu essen? Zu schlafen? Einen Spaziergang zu machen?«
    »Ich glaube, ich habe heute etwas gegessen«, sagte Strange, »obwohl ich mich nicht mehr erinnere, was es war.«
    Sie unterhielten sich eine Weile über belanglose Dinge, aber Strange war zerstreut. Mehrmals gab er Dr. Greysteel eine unzusammenhängende Antwort. Dann trank er seinen Grappa aus, zog die Taschenuhr heraus und sagte: »Ich hoffe, Sie werden mir meine Eile verzeihen. Ich habe eine Verabredung. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.«
    Dr. Greysteel war etwas überrascht und konnte nicht umhin, sich zu fragen, um was für eine Verabredung es sich handeln konnte. Ein Mann kann sich überall in der Welt schlecht benehmen, aber Dr. Greysteel schien, dass man sich in Venedig noch häufiger als üblich noch schlechter benahm. Keine andere Stadt in der Welt bot so viele Gelegenheiten, Unheil anzurichten, und zurzeit war Dr. Greysteel besonders darum besorgt, dass Strange einen über jeden Tadel erhabenen Charakter haben möge. Deshalb erkundigte er sich so beiläufig wie möglich, ob es sich um eine Verabredung mit Lord Byron handelte.
    »Nein. Um die Wahrheit zu sagen« – Strange kniff die Augen zusammen und senkte vertraulich die Stimme –, »ich glaube, ich habe jemanden gefunden, der mir hilft.«
    »Einen Elfen?«
    »Nein. Einen anderen Menschen. Ich setze große Hoffnung in diese Zusammenarbeit. Aber zugleich bin ich nicht sicher, wie diese Person meinen Vorschlag aufnehmen wird. Sie werden verstehen, dass ich sie unter diesen Umständen nicht warten lassen möchte.«
    »Nein, natürlich nicht«, sagte Dr. Greysteel. »Gehen Sie! Gehen Sie!«
    Strange ging davon und wurde zu einer der vielen schwarzen Gestalten mit ausdruckslosen schwarzen Gesichtern, die über das Gesicht des mondbeschienenen Venedigs eilten. Der Mond selbst hing zwischen großen architektonisch aufgetürmten Wolken, so dass es schien, als befände sich am Himmel eine andere mondbeschienene Stadt, deren Grandezza es mit Venedig aufnehmen konnte und deren prächtige Paläste und Straßen zu Ruinen verfielen, als hätte ein launischer Geist sie dort oben hingestellt, um sich über den langsamen Verfall Venedigs zu mokieren.
    Unterdessen nutzten Tante Greysteel und Miss Greysteel die Abwesenheit des Doktors, um auf den schrecklichen kleinen Dachboden des Hauses im Ghetto zurückzukehren. Sie waren heimlich gekommen, weil sie meinten, dass Dr. Greysteel und vielleicht auch Mr. Strange sie entweder von dem Besuch abhalten oder darauf bestehen würden, sie zu begleiten – und diesmal wünschten sie keine männliche Gesellschaft.
    »Sie würden darüber reden wollen«, sagte Tante Greysteel, »sie würden versuchen herauszufinden, wie sie in diesen traurigen Zustand geraten ist. Aber was sollte das nützen? Wie sollte es ihr helfen?«
    Miss Greysteel hatte Kerzen und einen Kerzenständer mitgebracht. Sie entzündete eine Kerze, damit sie sahen, was sie taten. Dann holten sie aus ihren Körben ein schönes schmackhaftes Kalbsfrikassee, das die abgestandene Luft des trostlosen Raums mit Wohlgeruch erfüllte, ein paar frische Brötchen, Äpfel und einen warmen Schal. Tante Greysteel stellte den Teller mit dem Kalbsfrikassee vor Mrs. Delgado, aber sie musste feststellen, dass Mrs. Delgados Finger und Fingernägel so gebogen und steif wie Krallen waren und sie sie nicht um die Griffe von Messer und Gabel legen konnte.
    »Nun, meine Liebe«, sagte Tante Greysteel schließlich, »sie scheint sich sehr dafür zu interessieren, und ich bin sicher, dass es ihr gut tun wird. Aber ich glaube, wir verlassen sie jetzt, damit sie es essen kann, wie immer sie es für am besten hält.«
    Sie gingen die Treppe hinunter. Kaum standen sie auf der Straße, rief Tante Greysteel: »Oh, Flora! Hast du gesehen? Ihr Abendessen stand bereits da. Da stand eine kleine Porzellanuntertasse – eine hübsche Untertasse, ähnlich wie mein Teeservice mit Rosenknospen und Vergissmeinnicht –, und darauf lag eine Maus, eine kleine, tote graue Maus.«
    Miss Greysteel blickte nachdenklich drein. »Ein Chicoree,

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