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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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gekocht und mit einer Sauce angemacht, wie sie es hier zu tun pflegen, sieht ein bisschen wie eine Maus aus.«
    »Ach, meine Liebe!«, sagte Tante Greysteel. »Du weißt, dass es nichts dergleichen war.«
    Sie gingen durch das Ghetto Vecchio zum Kanal von Cannaregio, als Miss Greysteel plötzlich einen Schritt in den Schatten trat und nicht mehr zu sehen war.
    »Flora! Was ist?«, rief Tante Greysteel. »Was hast du gesehen? Komm zurück, meine Liebe. Hier zwischen den Häusern ist es so dunkel. Liebste! Flora!«
    Miss Greysteel trat wieder ins Licht, so rasch, wie sie verschwunden war. »Es ist nichts, Tante«, sagte sie. »Hab keine Angst. Ich dachte nur, ich hätte jemanden meinen Namen sagen hören und habe nachgesehen. Ich dachte, es wäre jemand, den ich kenne. Aber es ist niemand da.«
    An den Fondamenta wartete ihre Gondel auf sie. Der Gondoliere half ihnen beim Einsteigen und stakte sie dann langsam davon. Tante Greysteel machte es sich unter dem Baldachin in der Mitte des Boots bequem. Regen fiel auf die Leinwand. »Wenn wir zu Hause sind, werden wir vielleicht Mr. Strange bei Papa finden«, sagte sie.
    »Vielleicht«, sagte Miss Greysteel.
    »Vielleicht ist er auch mit Lord Byron zum Billardspielen gegangen«, sagte Tante Greysteel. »Es ist merkwürdig, dass sie Freunde sind. Sie scheinen so unterschiedliche Herren zu sein.«
    »Ja, so ist es. Mr. Strange hat mir erzählt, dass er Lord Byron wesentlich weniger sympathisch fand, als er ihn in der Schweiz kennen lernte. Seine Lordschaft war umgeben von poetischen Leuten, die alle um seine Aufmerksamkeit buhlten und deren Gesellschaft er allen anderen vorzog. Mr. Strange sagte, dass er nahezu unhöflich war.«
    »Nun, das ist sehr schlimm. Aber überhaupt nicht verwunderlich. Hast du nicht Angst, ihn anzusehen, meine Liebe? Lord Byron meine ich. Ich hätte vielleicht Angst – ein klein wenig.« »Nein, ich habe keine Angst.«
    »Nun, meine Liebe, das liegt daran, dass du klarsichtiger und standfester bist als andere Menschen. Ja, ich weiß nichts auf der Welt, wovor du Angst haben könntest.«
    »Ach, ich glaube nicht, dass ich ungewöhnlich mutig bin. Ob ich ungewöhnlich tugendhaft bin, weiß ich nicht. Ich war nie versucht, etwas wirklich Schlimmes zu tun. Es liegt daran, dass Lord Byron nie Macht über mich haben oder meine Gedanken und Vorsätze ins Wanken bringen könnte. Ich bin sicher vor ihm. Aber damit will ich nicht sagen, dass es nicht jemanden auf der Welt gibt – das heißt nicht, dass ich ihn kenne –, den anzusehen ich manchmal nicht ein wenig Angst hätte – weil er vielleicht traurig dreinblickt oder verloren oder nachdenklich oder –, und weißt du, das wäre am schlimmsten – weil er über einen privaten Zorn oder Schmerz brütet und deswegen nicht einmal merkt, dass ich ihn ansehe, oder ihm nichts daran liegt.«
    Auf dem kleinen Dachboden des Hauses im Ghetto tropften Miss Greysteels Kerzen und erloschen. Der Mond schien in das Albtraumzimmer, und die alte Dame in Cannaregio begann das Kalbsfrikassee zu verschlingen, das die Damen Greysteel ihr gebracht hatten.
    Sie wollte gerade den letzten Bissen schlucken, als plötzlich eine englische Stimme sagte: »Leider sind meine Freundinnen nicht lange genug geblieben, um mich vorzustellen, und es ist immer ein wenig peinlich, wenn sich zwei Leute in einem Zimmer selbst vorstellen müssen, nicht wahr, Madam? Mein Name ist Strange. Und Ihrer, Madam, ist Delgado, auch wenn Sie es nicht wissen, und ich bin überaus erfreut, Sie kennen zu lernen.«
    Strange lehnte mit verschränkten Armen am Fensterbrett und betrachtete sie konzentriert.
    Sie dagegen beachtete ihn ebenso wenig wie Tante Greysteel oder Miss Greysteel oder irgendeinen anderen Besucher, der ihr während der letzten Tage aufgewartet haben mochte. Sie beachtete ihn so wenig, wie eine Katze jemanden beachtet, der sie nicht interessiert.
    »Als Erstes möchte ich Ihnen versichern«, sagte Strange, »dass ich nicht einer der lästigen Gäste bin, die keinen wirklichen Grund für ihren Besuch haben und Ihnen nichts mitzuteilen haben. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, Mrs. Delgado. Es ist für uns beide ein großer Glücksfall, Madam, dass wir uns ausgerechnet jetzt kennen lernen. Ich kann Ihnen Ihren Herzenswunsch erfüllen, und Sie können mir im Gegenzug meinen gewähren.«
    Mrs. Delgado ließ nicht erkennen, dass sie ihn gehört hatte. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit der Untertasse mit der toten Maus zugewandt, und ihr alter

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