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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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»Es ist kurios, und wir Zauberer sammeln Kuriositäten.«
    »Könnten Sie sie mit Zauberei heilen, Mr. Strange?«, fragte Miss Greysteel.
    »Wahnsinn heilen? Nein. Ich habe es allerdings schon versucht. Ich wurde einmal gebeten, einen verrückten alten Herrn aufzusuchen, um zu überprüfen, ob ich etwas für ihn tun könnte, und ich glaube, dass ich bei dieser Gelegenheit stärkere Zaubersprüche als je zuvor angewandt habe. Aber nach meinem Besuch war er noch genauso wahnsinnig wie zuvor.«
    »Aber es könnte doch Mittel geben, Wahnsinn zu heilen, oder?«, fragte Miss Greysteel eifrig. »Ich nehme an, die Aureaten kannten eines.« Miss Greysteel interessierte sich seit kurzem für die Geschichte der Zauberei, und dieser Tage benutzte sie häufig Wörter wie Aureaten oder Argentinen .
    »Möglicherweise«, sagte Strange. »Aber wenn dem so war, ist das Rezept seit Hunderten von Jahren verschollen.«
    »Und wenn es tausend Jahre wären, sollte Sie das doch gewiss nicht abhalten. Sie haben uns Beispiele von Dutzenden von Zaubersprüchen genannt, die angeblich verloren waren und die Sie wiederentdeckt haben.«
    »Das stimmt, aber in der Regel hatte ich eine Vorstellung, wie ich es anfangen sollte. Ich kenne kein einziges Beispiel, dass ein aureatischer Zauberer Wahnsinn geheilt hätte. Ihre Einstellung zu Wahnsinn war ganz anders als unsere. Sie betrachteten Verrückte als Seher und Propheten und hörten ihnen mit größter Aufmerksamkeit zu.«
    »Wie merkwürdig! Warum?«
    »Mr. Norrell glaubt, dass es etwas mit der Sympathie zu tun hatte, die Elfen für Verrückte empfinden – und mit der Tatsache, dass Verrückte Elfengeister wahrnehmen können, wenn niemand anders es kann.« Strange hielt inne. »Sie sagen, dass diese alte Frau sehr verrückt ist?«
    »Oh ja! Ich glaube schon.«
    Nach dem Essen schlief Dr. Greysteel in seinem Sessel im Salon ein. Tante Greysteel nickte ein, wachte gelegentlich auf, entschuldigte sich für ihre Schläfrigkeit und döste prompt wieder ein. So kam Miss Greysteel für den Rest des Abends in den Genuss eines Tête-à-Tête mit Strange. Sie hatte ihm viel zu sagen. Auf seine Empfehlung hin hatte sie Lord Portisheads Der Rabenkönig. Eine Einführung für Kinder gelesen und wollte ihm Fragen dazu stellen. Er schien jedoch zerstreut, und mehrmals hatte sie den unerfreulichen Eindruck, dass er ihr nicht zuhörte.
    Am nächsten Tag besuchten die Greysteels das Arsenal und waren voll der Bewunderung für seine düstere Weitläufigkeit; anschließend verbrachten sie ein, zwei müßige Stunden in Antiquitätenläden (in denen die Ladenbesitzer fast so malerisch und altmodisch waren wie die Antiquitäten), und sie aßen Eiscreme in der Konditorei nahe der Kirche San Stefano. Zu all diesen Lustbarkeiten war Strange eingeladen gewesen, aber früh am Morgen erhielt Tante Greysteel einen kurzen Brief mit seinen Empfehlungen und seinem Dank, aber er sei durch Zufall auf eine neue Möglichkeit gestoßen, deren Erkundung er nicht hinauszuschieben wage, »... und Gelehrte sind, Madam, wie Sie bestimmt von Ihrem Bruder wissen, die selbstsüchtigsten Wesen der Schöpfung und glauben, dass Hingabe an ihre Forschungen alles entschuldigt ...« Auch am nächsten Tag, als sie die Scuola di Santa Maria della Carita besuchten, war er nicht dabei. Ebenso wenig am darauf folgenden, als sie mit der Gondel nach Torcello fuhren, eine einsame, von Schilf überwucherte und von grauen Nebeln verhüllte Insel, auf der vor langer, langer Zeit die erste venezianische Stadt erbaut worden war, in Glanz erstrahlte, verlassen wurde und schließlich verfiel.
    Aber obwohl Strange in seinen Räumen nahe Santa Maria Zobenigo saß und zauberte, wurde Dr. Greysteel die Qual erspart, ihn zu vermissen, dank der Häufigkeit, mit der sein Name erwähnt wurde. Wenn die Greysteels an der Rialtobrücke vorbeigingen und der Anblick der Brücke Dr. Greysteel veranlasste, sich über Shylock, Shakespeare und den Zustand des modernen Theaters auszulassen, dann kam Dr. Greysteel in den Genuss von Stranges Ansichten zu diesen Themen, denn Miss Greysteel kannte sie und brachte sie ebenso stichhaltig vor wie ihre eigenen. Wenn die Greysteels in einem kleinen Antiquitätengeschäft ein Gemälde von einem niedlichen Tanzbären entdeckten, dann war das für Miss Greysteel Anlass, ihrem Vater von einem Bekannten von Mr. Strange zu erzählen, der einen ausgestopften Braunbären in einem Glaskasten besaß. Wenn die Greysteels auswärts aßen, dann

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