Jonathan Strange & Mr. Norrell
Unterschied bestand zwischen den beiden Vorstellungen: Die eine zeugte von geistiger Gesundheit, die andere nicht. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, welche wovon zeugte.
Das war ein wenig beunruhigend.
Das einzige Problem mit der Tinktur, so dachte er, besteht darin, dass es schwierig ist zu bestimmen, wann die Wirkung aufhört. Das hatte ich nicht bedacht. Vermutlich sollte ich ein, zwei Tage warten, bevor ich es wieder versuche.
Aber gegen Mittag gewann seine Ungeduld die Oberhand. Er fühlte sich besser. Er neigte zu der Ansicht, dass die Menschen keine Kerzen im Kopf hatten. Und außerdem, dachte er, spielt es keine Rolle. Diese Frage hat keine Bedeutung für mein derzeitiges Unterfangen. Er gab neun Tropfen Tinktur in ein Glas Vin Santo und trank es aus.
Sofort war er der Überzeugung, dass alle Schränke im Haus mit Ananas gefüllt waren. Er war sicher, dass sich weitere Ananas unter seinem Bett und unter dem Tisch befanden. Dieser Gedanke beunruhigte ihn so sehr, dass ihm abwechselnd heiß und kalt wurde und er sich auf den Boden setzen musste. Alle Häuser und Palazzi der Stadt waren voller Ananas, und die Menschen draußen in den Straßen hatten Ananas bei sich, versteckt unter ihren Kleidern. Er roch die Ananas, ein süßer und zugleich beißender Geruch.
Etwas später wurde an seine Tür geklopft. Er war überrascht, dass es bereits Abend und im Zimmer dunkel war. Wieder wurde geklopft. Der Vermieter stand vor der Tür. Der Vermieter begann zu sprechen, aber Strange verstand ihn nicht. Und zwar weil der Mann eine Ananas im Mund hatte. Wie er es geschafft hatte, sich eine ganze Ananas in den Mund zu stopfen, ging über sein Begriffsvermögen. Grüne gezackte Blätter schoben sich langsam aus seinem Mund und wurden zurückgesaugt, wenn er sprach. Strange überlegte, ob er vielleicht ein Messer oder einen Haken holen und versuchen sollte, die Ananas herauszufischen, für den Fall, dass der Vermieter daran zu ersticken drohte. Aber andererseits war es ihm ziemlich einerlei. Schließlich ist er selbst dran schuld, dachte er ein wenig gereizt. Er hat sie sich reingesteckt.
Am nächsten Tag schnitt im Kaffeehaus Ecke Calle de la Cortesia ein Kellner eine Ananas auf. Strange erschauderte über seinem Kaffee.
Er hatte feststellen müssen, dass es einfacher – viel einfacher – als angenommen war, sich selbst in den Wahnsinn zu treiben, aber wie alle Zauberei war auch diese voller Schwierigkeiten und Enttäuschungen. Selbst wenn es ihm gelänge, den Elfen herbeizuzitieren (was nicht sehr wahrscheinlich erschien), wäre er nicht in der Lage, mit ihm zu sprechen. Alle Bücher, die er zu diesem Thema gelesen hatte, mahnten die Zauberer zur Vorsicht im Umgang mit Elfen. Just wenn er alle Geistesgegenwart brauchte, wäre er nicht bei Verstand.
»Wie soll ich ihn mit der Überlegenheit meiner Zauberkunst beeindrucken, wenn ich nur über Ananas und Kerzen reden kann?«, fragte er sich.
Er schritt den ganzen Tag in seinem Zimmer auf und ab, notierte hin und wieder etwas auf Zettel. Als es Abend wurde, schrieb er einen Zauberspruch auf, um einen Elfen herbeizurufen, und legte ihn auf den Tisch. Dann gab er vier Tropfen der Tinktur in ein Glas Wasser und trank es.
Dieses Mal wirkte die Tinktur ganz anders. Er wurde nicht von sonderbaren Ängsten oder Befürchtungen heimgesucht. Er fühlte sich im Gegenteil besser als seit langem: gelassener, ruhiger, weniger besorgt. Die Zauberei war ihm nicht mehr sehr wichtig. In seinem Kopf wurden Türen zugeschlagen, und er schlenderte durch Räume und Korridore in seinem Inneren, die er seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Während der ersten zehn Minuten wurde er zu dem Mann, der er mit zwanzig oder zweiundzwanzig gewesen war; danach war er jemand ganz anders – jemand, der er hätte sein können, der er jedoch aus mannigfaltigen Gründen nie geworden war.
Sein erster Wunsch, nachdem er die Tinktur getrunken hatte, war, in ein Ridotto zu gehen. Es erschien ihm lächerlich, dass er seit Anfang Oktober in Venedig war und noch nie eines aufgesucht hatte. Als er jedoch auf seine Uhr blickte, musste er feststellen, dass es erst acht war. »Das ist viel zu früh«, sagte er vor sich hin. Er war in Plauderlaune und sah sich nach jemandem um, dem er sich anvertrauen könnte. Da niemand anders da war, wandte er sich an die kleine Holzfigur in der Ecke. »Während der nächsten drei, vier Stunden wird niemand da sein, den zu sehen sich lohnt«, sagte er
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