Jonathan Strange & Mr. Norrell
fort, ohne das Erstaunen des Herrn zu bemerken, »aber ich habe nirgendwo eine Schnupftabakdose gefunden. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, sie nicht mitzunehmen. Normalerweise schnupfe ich Kendal Brown, wenn Sie den haben.«
Während er sprach, kramte er in seinen Taschen. Aber er hatte das kleine Blut-und-Knochen-Sträußchen vergessen, das von der Decke hing. Und als er sich bewegte, stieß er mit dem Kopf dagegen. Das Sträußchen schwang zurück und wieder vor und traf ihn mitten auf der Stirn.
KAPITEL 54
Eine kleine Dose von der Farbe des Kummers
1. und 2. Dezember 1816
Etwas schnappte in der Luft, sofort gefolgt von einer leisen Brise und einer neuen Frische, als wäre ein abgestandener Geruch plötzlich aus dem Zimmer geweht worden.
Strange blinzelte zwei–, dreimal.
Nachdem er wieder zu sich gekommen war, dachte er als Erstes, dass sein komplizierter Zauber gewirkt hatte; vor ihm stand jemand – zweifellos ein Elf. Als Nächstes überlegte er, was um alles in der Welt er getan hatte. Er zog seine Taschenuhr heraus und blickte darauf; seitdem er die Tinktur getrunken hatte, war fast eine Stunde vergangen.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er, »ich weiß, es ist eine seltsame Frage, aber habe ich Sie schon um etwas gebeten?«
»Schnupftabak«, sagte der Herr mit dem Haar wie Distelwolle.
»Schnupftabak ?«
»Sie baten mich um eine Prise Schnupftabak.«
»Wann?«
»Was?«
»Wann habe ich Sie um den Schnupftabak gebeten?«
»Gerade eben.«
»Ah! Ah. Gut. Bemühen Sie sich nicht. Ich brauche ihn jetzt nicht.«
Der Herr mit dem Haar wie Distelwolle verneigte sich.
Strange wusste, dass seinem Gesicht die Verwirrung anzusehen war. Er erinnerte sich an all die strengen Mahnungen, die Angehörigen dieser verschlagenen Art nicht merken zu lassen, dass sie mehr wussten als man selbst. Also verbarg er sein Erstaunen unter einer sarkastischen Miene. Dann fiel ihm ein, dass es weithin als noch gefährlicher galt, überlegen zu erscheinen und den Elfen dadurch zu verärgern; deswegen versteckte er seinen Sarkasmus hinter einem Lächeln. Schließlich blickte er wieder verwirrt drein.
Er bemerkte nicht, dass dem Herrn mindestens ebenso unbehaglich zu Mute war wie ihm selbst.
»Ich habe Sie hierher gerufen«, sagte er, »weil ich seit langem wünsche, dass mir jemand Ihrer Art zur Seite steht und mich in Zauberei unterrichtet.« Er hatte diese kurze Ansprache mehrmals geübt und war erfreut, dass sie sowohl selbstbewusst als auch würdevoll klang. Leider verdarb er diesen Effekt sofort, indem er hastig hinzufügte: »Habe ich das schon erwähnt?«
Der Herr schwieg.
»Mein Name ist Jonathan Strange. Vielleicht haben Sie von mir gehört? Ich befinde mich an einem überaus interessanten Punkt meiner Laufbahn. Ich glaube, es ist keine Übertreibung, wenn ich behaupte, dass die Zukunft der englischen Zauberei von meinen Taten der nächsten Monate abhängt. Erklären Sie sich damit einverstanden, mir zu helfen, und Ihr Name wird so berühmt werden wie die von Col Tom Blue und Master Witcherley!« 139
»Ts«, erklärte der Herr angewidert. »Niederes Volk.«
»Wirklich?«, sagte Strange. »Ich hatte keine Ahnung.« Er ließ nicht locker. »Es war Ihre« – er hielt inne auf der Suche nach dem richtigen Ausdruck – »freundliche Anteilnahme am König von England, die mich auf Sie aufmerksam gemacht hat. So ein Talent! So ein Einfallsreichtum! Der englischen Zauberei mangelt es heutzutage an Esprit. Es mangelt ihr an Feuer und Kraft. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mich die immergleichen Zauber zur Lösung der immergleichen Probleme langweilen. Der Blick, den ich auf Ihre Zauberkunst werfen durfte, hat mich davon überzeugt, dass sie ganz anders geartet ist. Sie könnten mich überraschen. Und ich sehne mich danach, überrascht zu werden!«
Der Herr zog eine perfekte Elfenbraue in die Höhe, als hätte er überhaupt nichts dagegen, Jonathan Strange zu überraschen.
Strange fuhr aufgeregt fort: »Oh! Ich kann Ihnen genauso gut gleich sagen, dass in London ein alter Mann namens Norrell – so was wie ein Zauberer – lebt, der Wutanfälle haben wird, sobald er erfährt, dass Sie sich mit mir verbündet haben. Er wird sein Bestes tun, um unsere Pläne zu durchkreuzen, aber ich nehme an, dass Sie und ich ihm mehr als gewachsen sein werden.«
Der Herr schien nicht mehr zuzuhören. Er schaute sich im Zimmer um, sein Blick schweifte von einem Gegenstand zum nächsten.
»Ist hier in
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