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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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Erinnerung – die schrittweise und in Bruchstücken zurückkehrte – an die Form des Wahnsinns, in die er diesmal verfallen war. »Ich glaube, ich habe mich in Lascelles oder Drawlight verwandelt! Wie absolut entsetzlich!«
    Am nächsten Morgen hatte Stephen Geschäftliches für Sir Walter zu erledigen. Er suchte einen Bankier in der Lombard Street auf; er hatte eine Unterredung mit einem Porträtmaler in Little Britain; er überbrachte einer Frau in der Fetter Lane Anweisungen für ein Kleid für Lady Pole. Seine nächste Verabredung fand in der Kanzlei eines Advokaten statt. Ein weicher schwerer Schnee fiel. Ihn umgaben die gewohnten Geräusche der Stadt: das Schnauben und Stampfen der Pferde, das Rumpeln der Kutschen, die Rufe der Straßenverkäufer, das Zuschlagen von Türen und das Stapfen von Füßen durch den Schnee.
    Er stand an der Ecke Fleet Street und Mitre Court und hatte gerade seine Taschenuhr (ein Geschenk des Herrn mit dem Haar wie Distelwolle) herausgenommen, als plötzlich alle Geräusche verstummten, als wären sie mit einem Messer abgeschnitten worden. Einen Augenblick lang meinte er, taub geworden zu sein. Aber noch bevor sich Entsetzen in ihm ausbreiten konnte, schaute er sich um und sah, dass das Verstummen der Geräusche nicht die einzige Merkwürdigkeit war. Die Straßen waren plötzlich völlig leer. Keine Menschen, keine Katzen, keine Hunde, keine Pferde, keine Vögel. Alle waren verschwunden.
    Und der Schnee! Das war das Merkwürdigste überhaupt. Er hing eingefroren in der Luft, riesige weiße Flocken, so groß wie Sovereigns.
    Zauberei!, dachte er angewidert.
    Er ging ein Stück die Mitre Court entlang und blickte in die Schaufenster. Die Lampen waren angezündet; auf den Ladentischen lagen Waren – Seide, Tabak, Notenpapier; in den Kaminen brannte Feuer, die Flammen erstarrt. Er schaute zurück und sah, dass er eine Art Tunnel in den dreidimensionalen Spitzenvorhang aus Schnee gemacht hatte. Das war, von all den merkwürdigen Dingen, die er in seinem Leben gesehen hatte, das Merkwürdigste.
    Aus dem Nirgendwo rief eine wütende Stimme: »Ich dachte, ich wäre sicher vor ihm! Was für Tricks wendet er bloß an?« Der Herr mit dem Haar wie Distelwolle erschien plötzlich direkt vor Stephen, mit hochrotem Gesicht und funkelnden Augen.
    Der Schock war so groß, dass Stephen einen Augenblick lang meinte, er würde ohnmächtig in den Schnee sinken. Aber er wusste nur zu genau, wie sehr der Herr Gelassenheit und eine gefasste Haltung schätzte, deswegen verbarg er seine Angst und keuchte: »Sicher vor wem, Sir?«
    »Vor dem Zauberer, Stephen! Vor dem Zauberer! Ich dachte, dass er in den Besitz eines machtvollen Gegenstands gekommen sein müsste, der ihm meine Anwesenheit offenbarte. Aber in seinem Zimmer habe ich nichts gesehen, und er schwor, dass er nichts dergleichen besitze. Um mich zu vergewissern, habe ich während der letzten Stunde den Globus umrundet und jeden Zauberring, jeden Zauberkelch und jede Zaubermühle überprüft. Nichts fehlt. Alles ist an seinem Platz.«
    Aus dieser reichlich lückenhaften Erklärung schloss Stephen, dass es dem Zauberer gelungen sein musste, den Herrn mit dem Haar wie Distelwolle herbeizuzitieren und mit ihm zu sprechen. »Aber, Sir«, sagte er, »es muss doch gewiss eine Zeit gegeben haben, als Sie den Zauberern helfen, mit ihnen zaubern und ihre Dankbarkeit erwerben wollten. Deswegen haben Sie doch auch Lady Pole gerettet, nicht wahr? Vielleicht werden Sie feststellen, dass Ihnen das besser gefällt, als Sie denken.«
    »Ach, vielleicht. Aber ich glaube es nicht. Ich sage Ihnen, Stephen, abgesehen von der Unannehmlichkeit, dass ich zu ihm muss, wann immer er mich ruft, war es die langweiligste halbe Stunde seit vielen Zeitaltern. Ich habe noch nie jemanden so viel reden gehört. Er ist die eingebildetste Person, die mir je begegnet ist. Leute wie er, die fortwährend über sich selbst reden müssen und keine Zeit haben, anderen zuzuhören, finde ich höchst unangenehm.«
    »Aber natürlich, Sir. Das ist sehr ärgerlich. Da Sie mit dem Zauberer beschäftigt sein werden, nehme ich an, dass wir den Zeitpunkt werden hinausschieben müssen, da ich König von England werde?«
    Der Herr sagte etwas sehr Wutentbranntes in seiner eigenen Sprache – vermutlich fluchte er. »Ich glaube, Sie haben Recht – und das macht mich wütender als alles andere zusammengenommen.« Er überlegte einen Augenblick. »Aber andererseits wird es sich vielleicht als nicht so

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