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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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höflich, keine Rücksicht zu nehmen – er sei bei Freunden und solle den Brief gleich lesen. Das war sehr freundlich von ihr, aber ein wenig überflüssig, da Strange den Brief bereits geöffnet hatte und las.
    »Oh, Tante!«, rief Miss Greysteel aus und nahm die kleine Dose, die Strange auf den Tisch gestellt hatte. »Schau nur, wie hübsch!«
    Die Dose war klein, länglich und offenbar aus Silber und Porzellan. Sie war von einem wunderbaren Blau, das aber kein richtiges Blau war, sondern eher fliederfarben. Auch nicht wirklich fliederfarben, da eine Spur Grau darunter gemischt war. Um genauer zu sein, sie war von der Farbe des Kummers. Aber glücklicherweise hatten weder Miss Greysteel noch Tante Greysteel viel Kummer gelitten, und so erkannten sie die Farbe nicht.
    »Sie ist in der Tat sehr hübsch«, sagte ihre Tante. »Stammt sie aus Italien, Mr. Strange?«
    »Hmm?«, sagte Strange und blickte auf. »Ich weiß es nicht.«
    »Befindet sich etwas darin?«, fragte Tante Greysteel.
    »Ja, ich denke schon«, sagte Miss Greysteel und wollte sie öffnen.
    »Flora!«, rief Dr. Greysteel und schüttelte heftig den Kopf. Er vermutete, dass die Dose ein Geschenk war, das Strange Flora geben wollte. Diese Vermutung behagte ihm nicht, aber Dr. Greysteel hielt sich selbst nicht für kompetent, das Verhalten zu beurteilen, das ein Mann wie Strange – ein eleganter, weltläufiger Mann – sich selbst gestatten zu dürfen meinte.
    Strange, die Nase immer noch in dem Brief, sah und hörte nichts davon. Er nahm die kleine Dose und öffnete sie.
    »Befindet sich etwas darin, Mr. Strange?«, fragte Tante Greysteel.
    Strange schloss die Dose sofort wieder. »Nein, Madam, nichts.« Er steckte die Dose in die Tasche, rief nach Frank und bat ihn um ein Glas Wasser.
    Kurz nach dem Essen verließ er die Greysteels und ging auf direktem Weg in das Kaffeehaus Ecke Calle de la Cortesia. Der erste Blick auf den Inhalt der Dose war so schrecklich gewesen, dass er unter Menschen zu sein wünschte, wenn er sie erneut öffnete.
    Der Kellner brachte ihm Branntwein. Er trank einen Schluck und öffnete die Dose.
    Zuerst glaubte er, dass der Elf ihm eine überaus lebensechte Nachbildung eines kleinen weißen amputierten Fingers aus Wachs oder einem ähnlichen Material geschickt hatte. Er war so bleich, so blutleer, dass er nahezu grünlich schimmerte, mit einer Andeutung von Rosa in den winzigen Rillen des Fingernagels. Er wunderte sich, dass sich jemand solche Mühe geben sollte, um etwas so Entsetzliches herzustellen.
    Aber als er ihn berührte, wusste er sofort, dass er nicht aus Wachs war. Er war eiskalt, dennoch bewegte sich die Haut wie die Haut seiner eigenen Finger, und darunter waren Muskeln, die er sowohl spürte als auch sah. Es war zweifelsfrei ein menschlicher Finger. Der Größe nach zu urteilen war es wahrscheinlich der Finger eines Kindes oder der kleine Finger einer Frau mit zierlichen Händen.
    »Aber warum hat der Zauberer ihm einen Finger gegeben?«, fragte er sich. »Vielleicht ist es der Finger des Zauberers? Aber das kann nicht sein, außer der Zauberer wäre ein Kind oder eine Frau.« Er erinnerte sich vage, einmal etwas von einem Finger gehört zu haben, aber mehr fiel ihm im Moment dazu nicht ein. Obschon er sich nicht erinnerte, was er gehört hatte, wusste er seltsamerweise, wer es erzählt hatte. Es war Drawlight gewesen. »... was erklärt, warum ich nicht darauf geachtet habe. Aber warum hat Drawlight über Zauberei gesprochen? Er wusste wenig davon, noch lag ihm etwas daran.«
    Er trank noch einen Schluck Branntwein. »Ich dachte, wenn ich einen Elfen hätte, der mir alles erklärt, dann wären alle Geheimnisse gelüftet. Aber alles, was passiert, ist, dass ich ein weiteres Geheimnis vor mir habe.«
    Er begann über die verschiedenen Geschichten nachzugrübeln, die er über die großen englischen Zauberer und ihre Elfendiener gehört hatte. Martin Pale mit Master Witcherley, Master Fallowthought und all den anderen. Thomas Godbless mit Dick-nächsten-Dienstag. Meraud mit Coleman Gray. Und die Berühmtesten von allen: Ralph Stokesey und Col Tom Blue.
    Als Stokesey Col Tom Blue zum ersten Mal sah, war er ein wilder, unbeherrschter Kerl – der letzte Elf der Welt, der sich mit einem englischen Zauberer verbündete. Stokesey war ihm ins Elfenland gefolgt, in Col Tom Blues eigene Burg 142 , war unsichtbar herumgewandert und hatte viele interessante Dinge entdeckt. 143 Strange war nicht so naiv anzunehmen, dass die

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