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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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Tablett mit Brot auf dem Kopf. Während Strange zusah, wich er geschickt allen Bäumen aus, von denen er nicht wusste, dass sie ihm im Weg standen; er duckte sich hier und da, damit ihm die Zweige nicht die Augen ausstachen. Ein Mann und eine Frau, gekleidet für einen Ballsaal oder ein Ridotto , mit Umhängen und Masken, gingen Arm in Arm und miteinander flüsternd die Salizzada San Moisè entlang. Ein großer Baum stand ihnen mitten im Weg. Sie lösten sich voneinander, gingen zu beiden Seiten an dem Baum vorbei und hakten sich wieder unter.
    Strange folgte der glitzernden Linie durch eine Gasse bis zum Kai. Der Wald setzte sich fort, als die Stadt aufhörte, und die Lichtlinie führte zwischen den Bäumen hindurch.
    Ihm lag nicht viel daran, nass zu werden. In Venedig gibt es keinen sacht abfallenden Strand, der einen Zoll für Zoll tiefer ins Meer führt; die steinerne Welt der Stadt endet am Kai, und sofort beginnt die Adria. Strange hatte keine Ahnung, wie tief das Wasser hier war, aber er war einigermaßen sicher, dass es tief genug war, um darin zu ertrinken. Er konnte nur hoffen, dass die glitzernde Linie, die ihm den Weg durch den Wald wies, auch verhinderte, dass er ertrank.
    Doch gleichzeitig schmeichelte der Gedanke, dass er für dieses Abenteuer viel besser geeignet war als Norrell, seiner Eitelkeit. »Ihn könnte man nie dazu bringen, ins Meer zu gehen. Er hasst es, nass zu werden. Wer war es, der gesagt hat, dass ein Zauberer die Spitzfindigkeit eines Jesuiten, den Wagemut eines Soldaten und den Witz eines Diebes braucht? Ich glaube, es sollte eine Beleidigung sein, aber es ist etwas Wahres daran.«
    Er trat vom Kai.
    Sofort wurde das Meer flüchtiger und traumähnlicher, und der Wald wurde solider. Bald war das Wasser nur noch ein schwaches silbriges Schimmern zwischen den dunklen Bäumen, und in den gewohnten Duft eines Waldes bei Nacht mischte sich ein salziger Beigeschmack.
    Ich bin, dachte Strange, seit fast dreihundert Jahren der erste englische Zauberer, der ins Elfenland geht. 144 Dieser Gedanke gefiel ihm ausnehmend, und er wünschte, es wäre jemand da, der ihm dabei zusähe und staunte. Ihm wurde klar, wie sehr er der Bücher und der Stille überdrüssig war, wie sehr er sich nach den Zeiten sehnte, als Zauberer zu sein hieß, an Orte zu reisen, die kein Engländer je gesehen hatte. Zum ersten Mal seit Waterloo tat er etwas. Dann dachte er, dass er, anstatt sich selbst zu beglückwünschen, sich besser umschauen und etwas lernen sollte. Er betrachtete seine Umgebung.
    Der Wald war kein englischer Wald, obschon er einem englischen sehr ähnlich war. Die Bäume waren ein wenig zu alt, ein wenig zu groß und ein wenig zu phantastisch geformt. Strange hatte den starken Eindruck, dass sie voll ausgebildete Charaktere besaßen, dass sie liebten, hassten und eigene Wünsche hatten. Sie sahen aus, als wären sie es gewohnt, wie Männer und Frauen behandelt und gefragt zu werden, wenn etwas sie betraf.
    Das, dachte er, ist genau so, wie ich es erwartet habe, aber es sollte mir eine beständige Warnung sein, wie anders diese Welt ist. Die Leute, denen ich hier begegnen werde, werden mir bestimmt Fragen stellen. Sie werden mich hinters Licht führen wollen. Er begann, sich alle möglichen Fragen auszudenken, die sie ihm stellen könnten, und eine Vielzahl schlauer Antworten vorzubereiten. Er hatte keine Angst; und wäre ein Drache vor ihm aufgetaucht, so wäre es ihm einerlei gewesen. Er hatte während der letzten zwei Tage so viel erreicht; er fühlte sich, als würde ihm alles gelingen, wenn er es nur versuchte.
    Nachdem er ungefähr zwanzig Minuten gegangen war, führte ihn die glitzernde Linie zu einem Haus. Er erkannte es sofort wieder; er hatte es klar und deutlich an jenem Tag in Windsor vor sich gesehen. Und doch war es anders. In Windsor war es ihm hell und einladend erschienen. Jetzt wirkte es überwältigend armselig und verlassen. Es hatte viele Fenster, aber alle waren klein und die meisten waren dunkel. Es war viel größer, als er erwartet hatte – wesentlich größer als jedes irdische Gebäude. Der Zar von Russland mag ein so großes Haus haben, dachte er, oder vielleicht der Papst in Rom. Ich weiß es nicht. Ich war noch nie dort.
    Es war von einer hohen Mauer umgeben. Die glitzernde Linie schien an der Mauer zu enden. Er sah nirgendwo eine Öffnung. Er murmelte Ormskirks Enthüllungszauber, gefolgt von Taillemaches Schild, ein Zauber, der sicheres Geleit durch verzauberte Orte

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