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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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unansehnlicher Mann, dass eine Narbe mehr oder weniger keinen großen Unterschied macht.«
    Ich dagegen fand ihn gar nicht so unansehnlich. Gewiss, die einzelnen Gesichtszüge waren überaus hässlich; er hatte ein großes Gesicht, eineinhalb Mal so lang wie das anderer Menschen, mit einer großen, ziemlich spitzen Nase darin, zwei dunklen Augen, die wie zwei kleine schlaue Kohlen glühten, und zwei kurze dicke Augenbrauen, die wie kleine Fische tapfer in dem großen Meer seines Gesichts schwammen. Aber zusammengesetzt ergaben diese hässlichen Teile ein doch ganz angenehmes Ganzes. Wenn man das Gesicht in entspanntem Zustand sah (stolz und überhaupt nicht melancholisch), dachte man, dass es immer so aussehen müsste, dass kein zweites Gesicht so wenig geeignet wäre, Gefühle auszudrücken. Aber man hätte sich nicht gründlicher täuschen können.
    Nichts war charakteristischer für Sir Walter Pole als Staunen . Seine Augen wurden groß, seine Augenbrauen zogen sich zwei Zentimeter in die Höhe, er lehnte sich abrupt zurück und ähnelte niemandem so sehr wie einer Figur in den Stichen von Mr. Rowlandson oder Mr. Gillray. In der Öffentlichkeit kam das Staunen Sir Walter zupass. »Aber Sie wollen doch gewiss nicht sagen ...!«, rief er. Und wenn jener Herr, der so dumm war, in Sir Walters Hörweite etwas vorzuschlagen, kein Freund von Ihnen war oder wenn Sie ein Mensch sind, der Dummheit gerne geistreich bloßgestellt sieht, dann war Sir Walter unterhaltsam. An Tagen, an denen er vor gut gelaunter Bosheit sprudelte, war Sir Walter besser als ein Theaterstück in der Drury Lane. Geistlose Herren in beiden Häusern waren verwirrt und mieden ihn, wenn irgend möglich. (Der alte Lord Soundso drohte Sir Walter mit dem Stock, als er den schmalen steinernen Weg entlangging, der das Parlament und die Gardekavalleriebrigade verband, und schrie über die Schulter: »Ich werde nicht mit Ihnen sprechen, Sir. Sie verdrehen meine Worte. Sie unterstellen mir Dinge, die ich nicht beabsichtigt habe.«)
    Einmal hielt Sir Walter eine Rede vor einer Volksmenge in der Stadt und verglich dann England und seine Politiker denkwürdigerweise mit einer verwaisten jungen Dame, die einem Pack lüsterner, geiziger alter Männer in Obhut gegeben wurde. Statt die junge Dame vor der bösen Welt zu beschützen, stahlen sie ihr Erbe und plünderten ihr Haus. Und wenn Sir Walters Publikum über Teile seines Vokabulars stolperte (Frucht einer ausgezeichneten klassischen Bildung), so machte das nichts. Alle waren in der Lage, sich die junge Dame vorzustellen, wie sie in Unterröcken auf ihrem Bett stand, während die führenden Whig-Politiker ihre Schränke ausräumten und ihre Habseligkeiten an den Lumpensammler verhökerten. Und die jungen Herren waren von diesem Bild auf angenehme Weise schockiert.
    Sir Walter war großzügig und herzlich. Einmal sagte er, er hoffe, alle seine Feinde hätten Grund, ihn zu fürchten, und alle seine Freunde hätten Grund, ihn zu lieben – und ich glaube, im Großen und Ganzen war es so. Seine fröhliche Art, seine Freundlichkeit und Schlauheit, die hohe Stellung, die er jetzt in der Welt innehatte – all das sprach noch mehr zu seinen Gunsten, als er auch angesichts von Problemen zuversichtlich blieb, die einen geringeren Mann gewiss ins Straucheln gebracht hätten.
    Sir Walter hatte Geldsorgen. Es fehlte ihm nicht nur an Barem. Armut ist eine Sache, Sir Walters Schulden waren eine ganz andere. Eine elende Situation – und umso bitterer, weil eindeutig nicht er daran schuld war: Er war nicht extravagant, und ebenso wenig war er leichtsinnig, aber er war der Sohn und Enkel leichtsinniger Männer. Sir Walter war schon verschuldet geboren worden. Wäre er ein anderer Typ Mann gewesen, dann wäre vielleicht alles in Ordnung gekommen. Hätte er sich zur Kriegsmarine hingezogen gefühlt, dann hätte er mit Prisengeldern ein Vermögen machen können; hätte er die Landwirtschaft geliebt, hätte er den Ertrag verbessern und mit Weizen Geld verdienen können. Wäre er fünfzig Jahre früher Minister gewesen, hätte er Staatsgelder zu zwanzig Prozent Zinsen verleihen und den Profit einstecken können. Aber was kann ein moderner Politiker schon tun? Es ist wahrscheinlicher, dass er Geld ausgibt, als dass er Geld einnimmt.
    Ein paar Jahre zuvor hatten ihm Freunde in der Regierung die Stellung eines Staatssekretärs im Amt für Bittgesuche verschafft, wofür er einen besonderen Hut, ein kleines Stück Elfenbein und

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