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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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Gemälde wie eine Übung in Perspektive erscheinen ließ; Statuen, Säulen, Kirchen, Paläste streckten sich in die Ferne, wo sie auf einen weiten melancholischen Himmel stießen, während das Meer, das an den Mauern der Gebäude leckte, übersät war von aufwendig verzierten, vergoldeten Kähnen und diesen seltsamen schwarzen Booten, die an die Pantoffeln trauernder Damen erinnern.
    »Es stellt die symbolische Hochzeit zwischen Venedig und dem Adriatischen Meer dar«, sagte die Dame (von der wir jetzt annehmen müssen, dass es sich um Mrs. Wintertowne handelte). »Eine kuriose italienische Zeremonie. Während seiner Reisen auf dem Kontinent kaufte der verstorbene Mr. Wintertowne alle Gemälde, die Sie in diesem Zimmer sehen. Als er und ich heirateten, waren sie sein Hochzeitsgeschenk. Der Künstler – ein Italiener – war damals in England völlig unbekannt. Später, ermutigt von der Gönnerschaft, die er von meinem Mann erfuhr, kam er nach England.«
    Ihre Art zu sprechen war so gebieterisch wie ihre Person. Nach jedem Satz hielt sie inne, um Mr. Norrell Zeit zu geben, von den Informationen beeindruckt zu sein.
    »Und wenn meine liebe Emma heiratet«, fuhr sie fort, »werden diese Bilder mein Hochzeitsgeschenk für sie und Sir Walter sein.«
    Mr. Norrell erkundigte sich, ob Miss Wintertowne und Sir Walter bald zu heiraten gedachten.
    »In zehn Tagen!«, sagte Mrs. Wintertowne triumphierend.
    Mr. Norrell sprach seine Glückwünsche aus.
    »Sie sind Zauberer, Sir?«, sagte Mrs. Wintertowne. »Das bedauere ich. Es ist ein Berufsstand, gegen den ich einen besonderen Widerwillen empfinde.« Sie sah ihn so durchdringend an, als wollte sie ihn einzig durch ihre Missbilligung dazu bringen, die Zauberei sofort aufzugeben und sich eine andere Beschäftigung zu suchen.
    Als er das nicht tat, wandte sie sich ihrem zukünftigen Schwiegersohn zu. »Meine Stiefmutter, Sir Walter, setzte großes Vertrauen in einen Zauberer. Nach dem Tod meines Vaters war er immer bei uns zu Hause. Man betrat ein Zimmer, von dem man sicher war, dass niemand sich dann befand, und da stand er, halb verdeckt von einem Vorhang, in der Ecke. Oder er schlief auf dem Sofa mit den schmutzigen Stiefeln an den Füßen. Er war der Sohn eines Gerbers, und seine niedere Herkunft war ihm in allem anzumerken. Er hatte langes schmutziges Haar und ein Gesicht wie ein Hund, aber er saß an unserem Tisch wie ein Herr. Meine Stiefmutter ließ ihn alles entscheiden, und sieben Jahre lang beherrschte er unser Leben.«
    »Und Ihre Meinung wurde nicht gehört, Ma'am?«, sagte Sir Walter. »Das erstaunt mich.«
    Mrs. Wintertowne lachte. »Ich war nur ein Kind von acht oder neun Jahren, als es begann, Sir Walter. Er hieß Dreamditch und erzählte uns ständig, wie glücklich es ihn mache, unser Freund zu sein, obschon mein Bruder und ich ebenso ständig beteuerten, dass er nicht unser Freund sei. Aber er lächelte uns bloß an wie ein Hund, der lächeln gelernt hat und nicht weiß, wie man das Lächeln wieder abstellt. Verstehen Sie mich nicht falsch, Sir Walter. Meine Stiefmutter war in vieler Hinsicht eine vortreffliche Frau. Mein Vater schätzte sie so sehr, dass er ihr sechshundert im Jahr und die Erziehung seiner drei Kinder hinterließ. Ihre einzige Schwäche bestand darin, törichterweise an ihren eigenen Fähigkeiten zu zweifeln. Mein Vater war der Ansicht, dass Frauen in den Fragen von richtig und falsch und in vielen anderen Belangen den Männern ebenbürtig sind, und ich teile seine Ansicht vollkommen. Meine Stiefmutter hätte vor der Verantwortung nicht zurückweichen dürfen. Ich tat es nicht, als Mr. Wintertowne starb.«
    »Nein, in der Tat nicht, Ma'am«, murmelte Sir Walter.
    »Stattdessen«, fuhr Mrs. Wintertowne fort, »setzte sie ihr ganzes Vertrauen in den Zauberer, Dreamditch. Er trug keine Unze Zauberkraft in sich und musste deshalb etwas erfinden. Er stellte Regeln für meinen Bruder, meine Schwester und mich auf und versicherte meiner Stiefmutter, dass sie uns schützen würden. Wir trugen lila Bänder fest um unsere Brust geschnürt. In unserem Zimmer wurde der Tisch für sechs gedeckt, ein Teller für jeden von uns und ein Teller für die Geister, die uns laut Dreamditch beschützten. Er nannte uns ihre Namen. Was glauben Sie, wie sie hießen, Sir Walter?«
    »Ich habe keine blasse Ahnung, Ma'am.«
    Mrs. Wintertowne lachte. »Wiesentresse, Robin Sommerfliege und Butterblume. Mein Bruder, der ein ebenso unabhängiger Geist war wie ich, Sir Walter,

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