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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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benutzt, einen Zauberspruch gegen ihn zu schreiben. Überall schwarze Nacht, Sterne und Stille. In keinem der Häuser brannte Licht, und falls es stimmte, was man Drawlight erzählt hatte, dann befanden sich keine Menschen in den Häusern. Wenn der Zauberer nicht da war, natürlich.
    Mit großem Widerstreben stand er auf und blickte sich um. In der Nähe war eine kleine Brücke. Auf der anderen Seite der Brücke verschwand eine Gasse zwischen den hohen Mauern dunkler Häuser. Er konnte diesen Weg einschlagen oder sich für den Gehweg neben dem Kanal entscheiden. Der Gehweg war in Sternenlicht getaucht und wirkte besonders unheimlich und ungeschützt. Er entschied sich für die Gasse und die Dunkelheit.
    Er überquerte die Brücke und lief zwischen den Häusern durch. Fast sofort führte die Gasse auf einen Platz. Von diesem Platz gingen mehrere andere Gassen ab. Welchen Weg sollte er einschlagen? Er dachte an all die schwarzen Schatten, an denen er würde vorbeigehen müssen, an all die stillen Hauseingänge. Angenommen, er käme nie wieder heraus! Ihm war schlecht und schwindlig vor Angst.
    Auf dem Platz stand eine Kirche. Selbst bei Sternenlicht hatte ihre Fassade etwas Monströses. Sie strotzte vor Säulen und Statuen. Engel mit ausgebreiteten Flügeln hielten sich Trompeten an die Lippen; unter einem Steinbaldachin breitete eine schattenhafte Gestalt die Arme aus; blinde Gesichter blickten aus dunklen Bögen auf Drawlight herab.
    Woher weiß ich, dass der Zauberer nicht hier ist?, dachte er. Er untersuchte der Reihe nach jede schwarze Figur, um festzustellen, ob es sich um Jonathan Strange handelte. Sobald er damit begonnen hatte, war es schwierig aufzuhören; er bildete sich ein, dass eine der Gestalten sich sicherlich bewegen würde, wenn er nur einen Moment lang wegblickte. Er war nahezu davon überzeugt, dass er sich von der Kirche ohne Gefahr abwenden konnte, als ihm etwas ins Auge fiel – eine klitzekleine Unregelmäßigkeit in der tiefen Schwärze des Eingangs. Er sah näher hin. Dort lag etwas – oder jemand – auf den Stufen. Ein Mann. Er lag ausgestreckt auf den Steinen, als sei er ohnmächtig, mit dem Gesicht nach unten, die Arme über dem Kopf.
    Ein paar Momente lang – ach, es kam ihm vor wie eine Ewigkeit – wartete Drawlight ab, was passieren würde.
    Nichts passierte.
    Dann fiel es ihm sekundenschnell ein: Der Zauberer war tot! Vielleicht hatte er sich im Wahnsinn selbst umgebracht. Er verspürte ein überwältigendes Gefühl von Freude und Erleichterung. Vor Begeisterung lachte er laut auf – ein außergewöhnliches Geräusch in der Stille. Die dunkle Figur im Eingang regte sich nicht. Er trat näher und beugte sich über die Figur. Es war kein Atemgeräusch zu hören. Er wünschte, er hätte einen Stock, um sie anzustoßen.
    Ohne Vorwarnung drehte die Figur sich um.
    Drawlight stieß einen kurzen Schreckensschrei aus.
    Stille. Dann flüsterte Strange: »Ich kenne dich.«
    Drawlight versuchte zu lachen. Er hatte Gelächter immer als Mittel angewandt, um seine Opfer zu beschwichtigen. Gelächter hatte eine besänftigende Wirkung, nicht wahr? Sind wir wieder Freunde? Aber seinem Mund entwich lediglich ein seltsam kreischendes Geräusch.
    Strange stand auf und ging ein paar Schritte auf Drawlight zu. Drawlight wich zurück. Im Sternenlicht konnte er den Zauberer deutlicher sehen. Er begann die Gesichtszüge des Mannes wiederzuerkennen, den er früher gekannt hatte. Strange war barfuß. Sein Rock und sein Hemd waren offen, und er hatte sich offensichtlich seit Tagen nicht mehr rasiert.
    »Ich kenne dich«, sagte Strange noch einmal. »Du bist... Du bist...« Er fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, als fahre er magische Symbole nach. »Du bist Leucrocuta!«
    »Ein Loi...«, wiederholte Drawlight.
    »Du bist der Wolf des Abends! Du lauerst Männern und Frauen auf. Dein Vater war eine Hyäne und deine Mutter eine Löwin. Du hast den Körper eines Löwen, und deine Hufe sind gespalten. Du kannst nicht hinter dich blicken. Du hast einen langen Zahn und kein Zahnfleisch. Dennoch kannst du Menschengestalt annehmen und uns mit einer Menschenstimme anlocken!«
    »Nein, nein!«, flehte Drawlight. Er wollte noch mehr sagen; er wollte sagen, dass er nichts dergleichen war, dass Strange sich irrte, doch sein Mund war vor Angst zu trocken und zu schwach, um Worte zu bilden.
    »Und jetzt«, sagte Strange ruhig, »werde ich dich wieder in deine richtige Form zurückverwandeln.« Er hob die Hände.

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