Jonathan Strange & Mr. Norrell
davon erzählt. Nicht einmal meinem Herrn.«
»Hervorragend!« Drawlight lächelte.
»Es ist nur so, dass ich es nicht so gut erklären kann. Wäre einfacher, es Ihnen zu zeigen.«
»Ja, natürlich! Wohin gehen wir?«
»Kommen Sie einfach mit nach draußen. Man kann es von hier sehen.«
Also gingen Frank und Drawlight nach draußen, und Drawlight blickte sich um. Es bot sich ihm die gewöhnlichste venezianische Szene, die man sich vorstellen kann. Vor ihnen befand sich ein Kanal, und auf der anderen Seite stand eine ockerfarbene Kirche. Ein Dienstmädchen rupfte vor einer offenen Tür ein paar Tauben; die schmutzigen Federn stoben in einem gräulich weißen Kreis vor ihr auf. Überall war ein Durcheinander aus Gebäuden, Statuen, Wäscheleinen und Blumentöpfen. Und in der Entfernung ragte das bloße glatte Angesicht der Dunkelheit auf.
»Nun, vielleicht nicht genau hier«, räumte Frank ein. »Die Gebäude sind im Weg. Gehen Sie ein paar Schritte nach vorn, dann werden Sie es wunderbar sehen.«
Drawlight ging ein paar Schritte nach vorn. »Hier?«, fragte er und blickte sich immer noch um.
»Ja, genau da«, sagte Frank. Und gab ihm einen Fußtritt, der ihn in den Kanal beförderte.
Ein widerhallendes Platschen.
Frank blieb noch kurz, um Drawlight einige Betrachtungen über seine moralische Verderbtheit nachzurufen und ihn einen verlogenen, hinterlistigen Schurken zu nennen; einen elenden Hund; einen giftigen, feigen Lump; eine Schlange und ein Schwein. Diese Bemerkungen erleichterten sicherlich Franks Gefühle, doch an Drawlight, der nun unter Wasser war und sie nicht hören konnte, waren sie weitgehend verschwendet.
Das Wasser traf ihn wie ein Schlag; sein ganzer Körper schmerzte, und er bekam keine Luft. Er fiel durch düstere Tiefen. Er konnte nicht schwimmen und war überzeugt, dass er ertrinken würde. Doch er war erst ein paar Sekunden im Wasser, als er spürte, wie ihn eine kräftige Strömung packte und mit hoher Geschwindigkeit davontrug. Zufällig warf ihn die Wucht des Wassers immer wieder an die Oberfläche, so dass er rasch Luft holen konnte. Augenblick um Augenblick verbrachte er in größter Todesangst und war nicht in der Lage, sich zu retten. Einmal trug ihn das rasende Wasser hoch hinauf, und einen kurzen Moment lang sah er den sonnenbeschienenen Kai (an einer Stelle, die er nicht kannte); er sah schäumendes weißes Wasser, das gegen die Kaimauern schwappte und Menschen und Häuser nass spritzte; er sah die erschrockenen Gesichter der Leute. Wenn er es recht verstand, dann wurde er nicht, wie angenommen, ins offene Meer gespült, aber nach wie vor kam ihm nicht in den Sinn, dass die Strömung irgendwie unnatürlich war. Bisweilen trieb sie ihn mit viel Schwung in eine Richtung; dann wieder herrschte ein großes Durcheinander, und er war sich sicher, dass sein Ende nahte. Schließlich schien das Wasser seiner überdrüssig zu werden; die Strömung ließ von einem Augenblick zum nächsten nach, und er wurde auf ein paar Stufen geschleudert. Undeutlich nahm er kalte Luft und Gebäude um sich herum wahr.
Schaudernd und unter Schmerzen holte er tief Luft, und gerade als ihm das Atmen etwas leichter fiel, erbrach er Unmengen von kaltem Salzwasser. Dann lag er lange Zeit mit geschlossenen Augen einfach da, so wie ein Mann an der Brust einer Geliebten liegen mochte. Er dachte an nichts. Falls er noch irgendwelche Wünsche in sich barg, dann nur den, einfach nur so für immer liegen zu bleiben. Viel später wurde ihm klar, dass erstens die Steine wahrscheinlich ziemlich schmutzig waren und dass ihm zweitens fürchterlich kalt war. Er begann sich zu fragen, warum es so still war und ihm niemand zu Hilfe kam.
Er setzte sich auf und öffnete die Augen.
Um ihn herum herrschte völlige Dunkelheit. War er in einem Tunnel? In einem Keller? Unter der Erde! All dies wäre schrecklich, da er nicht die geringste Ahnung hatte, wie er dorthin geraten war oder wie er wieder hinausgelangen würde. Doch dann spürte er einen leichten kühlen Wind auf der Wange; er blickte auf und sah die weißen Sterne des Winters. Nacht!
»Nein, nein, nein!«, flehte er und drängte sich wimmernd an die Steine der Kaimauer.
Die Häuser waren dunkel und völlig still. Die Sterne waren das einzig Lebendige und Helle. Ihre Konstellationen wirkten auf Drawlight wie riesige glitzernde Buchstaben – Buchstaben eines unbekannten Alphabets. Soweit er wusste, hatte der Zauberer die Sterne zu solchen Buchstaben geformt und dazu
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