Jonathan Strange & Mr. Norrell
glitzerten vor Aufregung. »Jeder weiß es. Der Bruder der Dame – ein höchst ehrwürdiger Mann, ein Mann der Kirche, ein Mr. Woodhope – war dabei, als die Dame starb, und hat es mit eigenen Augen gesehen.«
»Was hat er gesehen?«
»Alle möglichen verdächtigen Umstände. Die Dame war verhext. Sie war völlig verzaubert und wusste kaum, was sie von morgens bis abends tat. Und niemand konnte es erklären. Das Ganze war das Werk ihres Ehemanns. Natürlich wird er seine Zauberei dazu benutzen, um einer Bestrafung zu entgehen, aber Mr. Norrell, der sich vor Mitleid mit der armen Dame verzehrt , völlig verzehrt , wird seine Pläne durchkreuzen. Mr. Norrell ist fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass Strange für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wird.«
Dr. Greysteel schüttelte den Kopf. »Nichts von dem, was Sie sagen, veranlasst mich dazu, dieser üblen Nachrede Glauben zu schenken. Strange ist ein ehrenwerter Mann!«
»Aber gewiss. Und trotzdem wurde schon manch stärkerer Verstand als seiner durch den Gebrauch von Zauberei ausgelöscht. Wenn Zauberei in die falschen Hände gerät, dann kann jede gute Eigenschaft vernichtet, jede schlechte überhöht werden. Er widersetzte sich seinem Lehrer – dem geduldigsten, klügsten, großzügigsten, besten...«
Der kleine Mann, der ein Adjektiv ans nächste reihte, schien sich nicht mehr daran zu erinnern, was er eigentlich sagen wollte; er wurde von Dr. Greysteels eindringlichem und prüfendem Blick abgelenkt.
Dr. Greysteel rümpfte die Nase. »Wie merkwürdig«, sagte er langsam. »Sie behaupten, Sie wurden von Mr. Stranges Freunden geschickt, aber Sie haben es versäumt, mir zu erzählen, um welche Freunde es sich handelt. Es ist schon eine ganz besondere Art von Freunden, die überall herumerzählen, dass der Mann ein Mörder ist.«
Der kleine Mann schwieg.
»War es vielleicht Sir Walter Pole?«
»Nein«, sagte der kleine Mann in abwägendem Tonfall. »Sir Walter war es nicht.«
»Dann vielleicht Mr. Stranges Schüler? Ich habe ihre Namen vergessen.«
»So geht es allen. Niemanden vergisst man so schnell wie diese Männer.«
»Waren sie es?«
»Nein.«
»Mr. Norrell?«
Der kleine Mann blieb stumm.
»Wie heißen Sie?«, fragte Dr. Greysteel.
Der kleine Mann neigte den Kopf zuerst zur einen, dann zur anderen Seite. Doch da er keine Möglichkeit fand, einer so direkten Frage auszuweichen, antwortete er: »Drawlight.«
»Oho! Da haben wir den richtigen Ankläger! Ja, in der Tat, Ihr Wort wird viel Gewicht haben gegen einen aufrichtigen Mann, gegen den Zauberer des Herzogs von Wellington. Christopher Drawlight! In ganz England bekannt als Lügner, Dieb und Schurke!«
Drawlight errötete und blinzelte den Doktor vorwurfsvoll an. »Das passt zu Ihnen, so zu reden!«, fauchte er. »Strange ist ein reicher Mann, und Sie hatten vor, Ihre Tochter mit ihm zu verheiraten. Wo bleibt da die Ehre, mein lieber Doktor? Wo bleibt da die Ehre?«
Dr. Greysteel machte ein Geräusch, das in einer Mischung aus Erschöpfung und Ärger bestand. Er erhob sich von seinem Platz. »Ich werde jede englische Familie im Veneto besuchen. Ich werde sie davor warnen, mit Ihnen zu sprechen. Ich gehe jetzt. Ich wünsche keinen guten Tag! Ich verabschiede mich nicht!« Und damit warf er ein paar Münzen auf den Tisch und ging davon.
Der letzte Teil des Wortwechsels war laut und wütend gewesen. Die Kellner und Kaffeehausgäste warfen Drawlight neugierige Blicke zu, als er allein dasaß. Er wartete, bis es unwahrscheinlich war, dass er den Doktor auf der Straße treffen würde, und verließ dann ebenfalls das Kaffeehaus. Während er durch die Straßen ging, wurde das Wasser in den Kanälen auf die merkwürdigste Weise aufgewühlt. Wellen tauchten auf und verfolgten ihn, schwappten gelegentlich über die Kanalmauern, zielten auf seine Füße und leckten daran. Doch er bemerkte nichts davon.
Dr. Greysteel hielt Wort. Er besuchte sämtliche britische Familien in der Stadt und warnte sie davor, mit Drawlight zu sprechen. Drawlight kümmerte sich nicht darum. Er wandte seine Aufmerksamkeit den Dienstboten, Kellnern und gondolieri zu. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass diese Schicht häufig sehr viel mehr wusste als die Herrschaften, denen sie diente; und falls dies nicht der Fall war, nun, dann konnte er die Lage nutzen und ihnen etwas erzählen. Bald wusste eine ganze Reihe von Leuten, dass Strange seine Frau umgebracht hatte; dass er versucht hatte, Miss Greysteel in der
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