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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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hell erleuchtet und mit rosa, hellblauen, topasgrünen und perlmuttfarbenen Schatten durchsetzt, deren Kombination ein harmonisches Bild ergab. Die Stadt schien in einer strahlenden Leere zu schweben.
    Der längste Teil der schwarzen Säule war so glatt wie Obsidian, doch etwa auf Höhe der Hausdächer waberten Windungen und Spiralen hinaus und schwebten durch die Luft davon. Stephen konnte sich nicht vorstellen, was sie sein mochten.
    »Ist das Rauch, Sir? Brennt der Turm?«, fragte Stephen.
    Der Herr antwortete nicht, doch als sie sich näherten, sah Stephen, dass es kein Rauch war. Zahllose dunkle Dinge flogen aus dem Turm. Es waren Raben. Tausende und Abertausende Raben. Sie verließen Venedig und flogen dorthin zurück, woher Stephen und der Herr gekommen waren.
    Ein Schwarm flog auf sie zu. Plötzlich bebte die Luft von tausendfachem Flügelschlag und war mit einem laut dreschenden, trommelnden Geräusch erfüllt. In Stephens Augen, Nase und Mund stoben Wolken aus Sand und Kies. Er beugte sich vornüber und presste die Hand vor die Nase, um sich gegen den Gestank zu schützen.
    Als sie weg waren, fragte er erstaunt: »Was war das, Sir?«
    »Geschöpfe, die der Zauberer geschaffen hat«, sagte der Herr. »Er schickt sie mit Anweisungen an den Himmel und die Erde und die Flüsse und die Berge zurück nach England. Er ruft all die früheren Verbündeten des Königs an. Sie werden bald englischen Zauberern gehorchen statt mir!« Er stieß einen lauten Schrei aus, eine Mischung aus Wut und Verzweiflung. »Ich habe ihn auf eine Art bestraft, auf die ich meine Feinde nie zuvor bestraft habe. Und trotzdem arbeitet er gegen mich. Warum fügt er sich nicht in sein Schicksal? Warum gibt er nicht auf?«
    »Ich habe noch nie gehört, dass es ihm an Mut fehlt, Sir«, sagte Stephen. »Jedenfalls hat er auf der Iberischen Halbinsel zahlreiche Heldentaten vollbracht.«
    »Mut? Wovon redest du? Das hier ist kein Mut! Das ist schlicht und ergreifend böser Wille. Wir waren nachlässig, Stephen. Wir haben es zugelassen, dass die englischen Zauberer uns gegenüber in Vorteil geraten. Wir müssen einen Weg finden, sie zu besiegen! Wir müssen unsere Anstrengungen, dich zum König zu machen, verdoppeln!«
KAPITEL 60
Sturm und Lügen
Februar 1817
    Tante Greysteel hatte in Padua ein Haus in Sichtweite des Obstmarkts gemietet. Es lag sehr günstig, um von dort aus überall hinzugelangen, und kostete nur achtzig Zechinen pro Vierteljahr (was in etwa achtunddreißig Guineen entspricht). Tante Greysteel war mit ihrem Handel hochzufrieden. Doch wenn man schnell und entschlossen vorgeht, dann geschieht es bisweilen, dass einem Unentschlossenheit und Zweifel nachträglich zu schaffen machen, wenn es zu spät ist. So verhielt es sich in diesem Fall: Tante Greysteel und Flora hatten das Haus noch keine Woche bezogen, als Tante Greysteel einiges daran auszusetzen hatte und sich zu fragen begann, ob sie es überhaupt hätte mieten sollen. Obwohl alt und hübsch, waren die gotischen Fenster ziemlich klein, und mehrere davon waren von steinernen Balkonen umgeben; mit anderen Worten: Im Inneren war es häufig dunkel. Dies wäre früher kein Problem gewesen, aber jetzt verlangte Floras Stimmung nach Beistand, und (so fand Tante Greysteel) Düsternis und Schatten – mochten sie noch so malerisch sein – waren nicht unbedingt gut für sie. Überdies standen im Hof Damen aus Stein, die im Laufe der Jahre Schleier und Umhänge aus Efeu angelegt hatten. Es war nicht übertrieben zu behaupten, dass diese Damen in unmittelbarer Gefahr schwebten, vollständig zu verschwinden. Jedes Mal, wenn Tante Greysteels Blick auf sie fiel, kam ihr Jonathan Stranges arme Frau in den Sinn, die so jung und unter so geheimnisvollen Umständen gestorben war und deren unglückliches Schicksal ihren Mann, so schien es, in den Wahnsinn getrieben hatte. Tante Greysteel hoffte, dass dergleichen schwermütige Gedanken nicht auch Flora heimsuchten.
    Aber der Handel war getätigt und das Haus war gemietet, also machte sich Tante Greysteel daran, es so freundlich und hell wie möglich zu gestalten. Sie hatte nie in ihrem Leben Kerzen oder Lampenöl vergeudet, aber in ihrem Vorhaben, Floras Stimmung zu heben, stellte sie sämtliche Überlegungen zu Ausgaben hintan. Auf der Treppe gab es eine besonders düstere Stelle, an der eine Stufe auf ungewöhnliche und unvorhersehbare Art verdreht war, und damit niemand stolpern und sich das Genick brechen würde, bestand Tante Greysteel

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