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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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sich, änderten die Form, wurden zu einem Raben; der Rabe breitete die Flügel aus und flog laut krächzend in den Nachthimmel empor. Er schlug erneut gegen die Mauer: Ein weiterer Rabe ging aus ihr hervor und flog davon. Dann noch einer und noch einer, und so ging es immer weiter, einer nach dem anderen, bis sämtliche Sterne von den schwarzen Flügeln verdunkelt waren.
    Strange hob die Hand, um noch einmal gegen die Mauer zu schlagen...
    »Lord Zauberer«, keuchte Drawlight. »Sie haben mir nicht gesagt, wie die dritte Botschaft lautet.«
    Strange blickte sich um. Ohne Vorwarnung packte er Drawlights Rock und zog ihn an sich. Drawlight konnte Stranges stinkenden Atem in seinem Gesicht spüren, und zum ersten Mal sah er sein Gesicht. Sternenlicht fiel auf grimmige, wilde Augen, aus denen alle Menschlichkeit und Vernunft gewichen war.
    »Sag Norrell, dass ich komme!«, zischte Strange. »Geh jetzt!«
    Das ließ sich Drawlight nicht zweimal sagen. Er eilte durch die Dunkelheit davon. Raben schienen ihn zu verfolgen. Er konnte sie nicht sehen, doch er hörte ihren Flügelschlag und spürte den Luftzug, den die Flügel verursachten. Als er eine Brücke gerade zur Hälfte überquert hatte, taumelte er ohne Vorwarnung in strahlendes Licht. Augenblicklich war er von Vogelgezwitscher und menschlichem Geplauder umgeben. Männer und Frauen liefen und redeten und gingen ihren alltäglichen Geschäften nach. Hier gab es keinen schrecklichen Zauber – nur die alltägliche Welt, die wunderbare, schöne alltägliche Welt.
    Drawlights Kleidung troff noch immer vor Meerwasser, und das Wetter war grausam kalt. Er befand sich in einem Teil der Stadt, den er nicht kannte. Niemand bot ihm Hilfe an, und er lief längere Zeit verloren und erschöpft umher. Endlich geriet er zufällig auf einen Platz, der ihm vertraut war, und fand den Weg zurück zu dem kleinen Gasthaus, in dem er ein Zimmer gemietet hatte. Als er dort anlangte, war er schwach und zitterte. Er zog sich aus und spülte, so gut es ging, das Salz von seinem Körper ab. Dann legte er sich in sein kleines Bett.
    Während der nächsten beiden Tage lag er im Fieber. Seine Träume bestanden aus unbeschreiblichen Dingen und waren mit Dunkelheit, Zauberei und den langen kalten Zeitaltern der Erde erfüllt. Und während er schlief, war er fortwährend voller Angst, aufzuwachen und sich unter der Erde oder von einem winterlichen Wald gekreuzigt wiederzufinden.
    Gegen Mittag des dritten Tages war er ausreichend genesen, um aufzustehen und zum Hafen zu gehen. Dort fand er ein englisches Schiff, das nach Portsmouth unterwegs war. Er zeigte dem Kapitän die Briefe und Papiere, die Lascelles ihm gegeben hatte; sie garantierten dem Schiff, das ihn nach England zurückbringen würde, eine große Summe und waren von zwei der berühmtesten Bankiers Englands unterschrieben.
    Bei Anbruch des fünften Tages war er auf dem Schiff, unterwegs nach England.
    Über London lag ein dünner kalter Dunst, der, so schien es zumindest, den dünnen kalten Charakter von Stephens Existenz nachahmte. In der jüngsten Vergangenheit lastete die Verzauberung schwerer denn je auf ihm. Freude, Zuneigung und Friede waren ihm nun völlig fremd. Die Wolken der Zauberei, die sein Herz umgaben, wurden nur noch von den bittersten Gefühlsregungen durchdrungen – Ärger, Groll und Enttäuschung. Der Bruch und die Entfremdung zwischen ihm und seinen englischen Freunden wurden stetig größer. Der Herr mit dem Haar wie Distelwolle mochte ein böser Geist sein, doch wenn er über den Stolz und die Selbstgerechtigkeit der Engländer sprach, dann konnte Stephen nur schwerlich die Richtigkeit seiner Rede leugnen. Selbst Verlorene Hoffnung diente trotz seiner Trostlosigkeit manchmal als willkommene Zuflucht vor englischer Überheblichkeit und englischer Bosheit; dort musste Stephen sich wenigstens nie für das entschuldigen, was er war; dort wurde er stets als Ehrengast behandelt.
    An diesem speziellen Wintertag war Stephen in Sir Walter Poles Stallungen im Hinterhof der Harley Street. Sir Walter hatte kürzlich ein Paar überaus edler Windhunde erworben, und das sehr zur Freude seiner männlichen Dienstboten, die den Großteil des Tages damit vergeudeten, die Hunde zu besuchen, sie zu bewundern und sich, je nach Wissensstand und Verständnis, über ihre Fähigkeiten auf der Rennbahn auszulassen. Stephen wusste, dass er diese Unsitte korrigieren sollte, doch er merkte, dass es ihm eigentlich nicht wichtig genug war, um sich

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