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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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darunter die Planken mit den Schreien Ihrer Mutter. Ein sehr armer Mann benutzte sie, um daraus Wände und Dach seines Hauses zu bauen. Das Haus war leicht zu finden. Es stand auf einem windigen Felsvorsprung über der stürmischen See. Darin lebten mehrere Generationen der Familie des armen Mannes in äußerster Armut und Verkommenheit. Sie müssen wissen, Stephen, dass Holz sehr eigensinnig und stolz ist; es sagt nicht gern, was es weiß – nicht einmal Freunden. Einfacher ist es, wenn man es mit der Asche des Holzes und nicht mit dem Holz selbst zu tun hat. Deswegen habe ich das Haus des armen Mannes niedergebrannt, die Asche in eine Flasche gefüllt und meinen Weg fortgesetzt.«
    »Niedergebrannt, Sir! Ich hoffe, dass niemand zu Schaden kam.«
    »Doch. Die kräftigen Männer konnten das brennende Haus rechtzeitig verlassen, aber die alten schwachen Mitglieder der Familie, die Frauen und kleinen Kinder verbrannten darin.«
    »Oh!«
    »Als Nächstes suchte ich ihre Knochen. Ich glaube, ich habe schon erwähnt, dass Ihre Mutter ins Meer geworfen wurde, wo ihre Leiche aufgrund der Strömungen und des unverschämten Waltens der Fische zu Knochen wurde, die Knochen zerfielen zu Staub, und aus dem Staub wurden in einem Austernbett rasch mehrere Hand voll der schönsten Perlen. Die Perlen wurden geerntet und an einen Juwelier in Paris verkauft, der eine Kette aus fünf perfekten Strängen daraus machte. Er verkaufte sie an eine schöne französische Komtesse. Sieben Jahre später starb die Komtesse unter der Guillotine, und ihr Schmuck, ihre Kleider und persönlichen Dinge gingen in den Besitz eines Revolutionärs über. Dieser elende Mann war bis vor kurzem Bürgermeister einer kleinen Stadt im Loiretal. Spätabends wartete er, bis alle Dienstboten zu Bett gegangen waren, dann zog er in seinem Schlafzimmer den Schmuck, die Kleider und anderen Putz der Komtesse an und schritt vor einem großen Spiegel auf und ab. Hier habe ich ihn eines Abends gefunden. Er sah, das muss ich sagen, höchst lächerlich aus. Ich habe ihn auf der Stelle erdrosselt – mit der Perlenkette.«
    »Oh!«, sagte Stephen.
    »Ich nahm die Perlen an mich, ließ die elende Leiche zu Boden fallen und zog weiter. Als Nächstes wandte ich meine Aufmerksamkeit dem hübschen rosa Kleid Ihrer Mutter zu. Der Matrose bewahrte es ein, zwei Jahre auf, bis er in einem kalten, schrecklichen kleinen Weiler namens Piper's Grave an der Ostküste Amerikas landete. Dort lernte er eine große dünne Frau kennen, und weil er sie beeindrucken wollte, schenkte er ihr das Kleid. Das Kleid passte der Frau nicht (Ihre Mutter, Stephen, hatte eine süß gerundete, frauliche Figur), aber ihr gefiel die Farbe, und deswegen schnitt sie es auseinander und nähte die Stücke mit anderen billigen Stoffresten zu einer Tagesdecke zusammen. Der Rest der Geschichte dieser Frau ist nicht sonderlich interessant – sie heiratete mehrere Männer und begrub sie alle, und als ich sie fand, war sie alt und faltig. Ich habe die Tagesdecke von ihrem Bett genommen, während sie schlief.«
    »Sie haben sie nicht getötet, nicht wahr, Sir?«, fragte Stephen besorgt.
    »Nein, Stephen. Warum sollte ich? Es war allerdings eine bitterkalte Nacht, es lagen vier Fuß Schnee, und draußen wütete der Nordwind. Vielleicht ist sie erfroren. Ich weiß es nicht. Und jetzt kommen wir endlich zum Kuss und dem Kapitän, der ihn ihr gestohlen hat.«
    »Haben Sie ihn umgebracht, Sir?«
    »Nein, Stephen – obwohl ich es gewiss getan hätte, um ihn für die Beleidigung zu bestrafen, die er Ihrer werten Mutter zugefügt hat. Aber er wurde vor neunundzwanzig Jahren in der Stadt Valetta gehängt. Glücklicherweise hat er, bevor er starb, viele andere junge Frauen geküsst, und die Tugendhaftigkeit und Kraft des Kusses Ihrer Mutter wurden auf sie übertragen. Ich musste sie also nur finden und aus ihnen herausziehen, was vom Kuss Ihrer Mutter übrig war.«
    »Und wie haben Sie das getan, Sir?«, fragte Stephen, obschon er fürchtete, die Antwort nur allzu gut zu kennen.
    »Ach! Das ist ganz einfach, sobald die Frauen tot sind.«
    »So viele tote Menschen, nur um meinen Namen zu finden«, sagte Stephen und seufzte.
    »Und ich hätte auch doppelt so viele umgebracht – nein, hundertmal so viele –, so groß ist die Zuneigung, die ich für Sie empfinde, Stephen. Mit der Asche, die ihre Schreie waren, und den Perlen, die ihre Knochen waren, und der Tagesdecke, die ihr Kleid war, und der magischen Essenz ihres Kusses

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