Jonathan Strange & Mr. Norrell
war, hielt er an und jemand stieg aus. Diese Person begann über das Moor auf sie zuzustapfen.
»Ausgezeichnet!«, sagte der Herr. »Jetzt werden wir unseren bösartigsten und mächtigsten Feind sehen. Setzen Sie Ihre Krone auf, Stephen! Soll er vor unserer Macht und Majestät zittern! Sehr gut. Heben Sie das Zepter. Ja, ja. Strecken Sie ihm den Reichsapfel entgegen. Hervorragend. Wie gut Sie aussehen. Wie königlich! Und jetzt, Stephen, da wir noch ein bisschen Zeit haben, bevor er bei uns ist« – der Herr blickte zu der kleinen Gestalt in der Ferne, die sich über das verschneite Moor kämpfte –, »werde ich Ihnen noch etwas anderes sagen. Was für ein Tag ist heute?«
»Der fünfzehnte Februar, Sir. Der Tag des Heiligen Antonius.«
»Ha! Was für ein langweiliger Heiliger! In Zukunft werden die Engländer am fünfzehnten Februar etwas Besseres zu feiern haben als das Leben eines Mönchs, der die Leute vor Regen schützt und ihre verlorenen Fingerhüte wiederfindet.« 173
»Wirklich, Sir? Und was wird das sein?«
»Die Namensgebung des Stephen Black!«
»Wie bitte, Sir?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, Stephen, dass ich Ihren wahren Namen herausfinden werde.«
»Tatsächlich? Hat mir meine Mutter wirklich einen Namen gegeben, Sir?«
»So ist es. Es ist genau, wie ich angenommen habe. Was keine Überraschung ist, denn in diesen Dingen irre ich mich nur selten. Sie gab Ihnen einen Namen in ihrer Sprache. Einen Namen, den sie als junges Mädchen oft bei ihrem Volk gehört hat. Sie hat Ihnen einen Namen gegeben, aber sie hat ihn keiner Menschenseele verraten. Sie hat ihn Ihnen nicht einmal in Ihr Babyohr geflüstert. Sie hatte keine Zeit dazu, denn der Tod stahl sich heran und riss sie aus dem Leben.«
Stephen sah ein Bild vor Augen – der dunkle muffige Frachtraum des Schiffes, seine Mutter, erschöpft von den Schmerzen der Geburt, umgeben von Fremden, er selbst ein winziges Neugeborenes. Sprach sie überhaupt die Sprache der anderen Menschen an Bord? Er wusste es nicht. Wie einsam sie sich gefühlt haben musste. In diesem Augenblick hätte er viel dafür gegeben, sie umarmen und trösten zu können, aber alle Jahre seines Lebens lagen zwischen ihnen. Er spürte, wie sich sein Herz noch ein Grad mehr gegen die Engländer verhärtete. Erst vor ein paar Minuten hatte er sich gemüht, den Herrn davon zu überzeugen, Strange nicht zu töten, aber was sollte ihm daran liegen, was aus einem Engländer wurde? Was sollte ihm daran liegen, was aus jemandem aus diesem kalten, hartherzigen Volk wurde?
Seufzend schob er diese Gedanken beiseite und musste feststellen, dass der Herr noch immer sprach.
»... Es ist eine überaus erbauliche Geschichte und stellt aufs Beste die Eigenschaften unter Beweis, für die ich besonders berühmt bin. Nämlich Selbstaufopferung, hingebungsvolle Freundschaft, hehre Ziele, schnelle Auffassungsgabe, Genialität und Mut.«
»Wie bitte, Sir?«
»Die Geschichte, wie ich Ihren Namen herausgefunden habe, Stephen, die ich jetzt erzählen werde. So sollen Sie denn wissen, dass Ihre Mutter im Frachtraum eines Schiffes, der Penlaw 174 , starb, das von Jamaika nach Liverpool segelte. Und dann«, fügte er ungerührt hinzu, »zogen die Engländer sie nackt aus und warfen sie ins Meer.«
»Ah!«, flüsterte Stephen.
»Wie Sie sich vorstellen können, erschwerte dies das Auffinden Ihres Namens immens. Nach dreißig oder vierzig Jahren sind von Ihrer Mutter nur vier Dinge übrig: Die Schreie während Ihrer Geburt, die sich in die Planken des Schiffes eingegraben haben; ihre Knochen, denn mehr ist von ihr nicht übrig, nachdem ihr Fleisch und ihre Weichteile von den Fischen gefressen wurden ...«
»Ah!«, rief Stephen wieder aus.
»... ihr Kleid aus rosa Baumwolle, das in den Besitz eines Matrosen übergegangen war; und ein Kuss, den der Kapitän des Schiffes ihr zwei Tage zuvor gestohlen hatte. Und nun«, sagte der Herr (der großen Gefallen an der Geschichte fand), »werden Sie sehen, mit welcher Schlauheit und Raffinesse ich diese vier Dinge durch die Welt verfolgte, bis ich sie aufspürte und Ihren ruhmreichen Namen herausfand. Die Penlaw segelte nach Liverpool, wo der böse Großvater von Lady Poles bösem Mann mit seinem Diener von Bord ging. Der Diener trug Sie im Arm. Auf der nächsten Reise – nach Leith in Schottland – geriet die Penlaw in einen Sturm und erlitt Schiffbruch. Mehrere Rundhölzer und Bretter aus dem zerbrochenen Frachtraum wurden an die felsige Küste gespült,
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