Jonathan Strange & Mr. Norrell
Rücken hob Strange den Blick himmelwärts.
In der Bibliothek stellten sie die Silberschale mit Wasser auf einen Tisch, der sich zwischen ihnen befand.
Es war höchst sonderbar, aber die Entdeckung, dass er jetzt gemeinsam mit Strange in der immerwährenden Dunkelheit gefangen war, schien Mr. Norrells Stimmung zu heben. Frohgemut erinnerte er Strange daran, dass sie noch immer nicht wussten, bei welchem Namen sie John Uskglass rufen sollten, und dies gewiss ein großes Hindernis auf der Suche nach ihm wäre – mit Zauberei oder anderen Mitteln.
Strange, den Kopf auf die Hände gestützt, starrte ihn düster an. »Versuchen Sie es einfach mit John Uskglass«, sagte er.
Norrell zauberte und nannte John Uskglass als die gesuchte Person. Er unterteilte die Wasserfläche mit schimmernden Linien aus Licht in Viertel. Er gab jedem Viertel einen Namen: Himmel, Hölle, Erde und Elfenland. Sofort erglühte ein Fleck bläulichen Lichts im Viertel, das für die Erde stand.
»Da!«, sagte Strange und sprang triumphierend auf. »Sehen Sie, Sir. Die Dinge sind nicht immer so schwierig, wie Sie glauben.«
Norrell tippte auf das Viertel; die Unterteilungen lösten sich auf. Er erneuerte sie und nannte sie: England, Schottland, Irland, Anderswo. Der Lichtfleck tauchte in England auf. Er tippte auf das Viertel, unterteilte die Wasserfläche neu und studierte das Ergebnis. Und immer so weiter. Der Fleck glühte beständig.
Er stieß einen leisen Laut aus.
»Was ist?«, fragte Strange.
Verwundert sagte Mr. Norrell: »Ich glaube, wir waren erfolgreich. Er ist hier. In Yorkshire.«
KAPITEL 67
Der Weißdornbaum
Februar 1817
Childermass ritt über einsames Moorland. Mitten im Moor stand ein einzelner verkrüppelter Weißdornbaum, und von dem Baum hing ein Leichnam. Er trug weder Rock noch Hemd und entblößte, was er zu Lebzeiten zweifellos verborgen hatte: seine merkwürdig entstellte Haut. Seine Brust, sein Rücken und seine Arme waren von einem komplizierten blauen Muster bedeckt, von so vielen Zeichen, dass er mehr blau als weiß war.
Während er auf den Baum zuritt, fragte sich Childermass, ob der Mörder zum eigenen Spaß etwas auf die Haut gekritzelt hatte. Als er noch Matrose gewesen war, hatte er Geschichten von Ländern gehört, in denen die Geständnisse der Verbrecher mit schrecklichen Mitteln auf ihre Körper geschrieben wurden, bevor man sie umbrachte. Aus der Ferne sahen die Zeichen wie eine Schrift aus, aber als er näher kam, sah er, dass sie sich unter der Haut befanden.
Er stieg vom Pferd und drehte die Leiche um, so dass er ihr Gesicht sehen konnte. Es war lila und geschwollen; die Augen traten aus den Höhlen und waren blutunterlaufen. Er betrachtete es, bis er in den verzerrten Zügen ein bekanntes Gesicht erkannte. »Vinculus«, sagte er.
Er schnitt die Leiche mit seinem Taschenmesser vom Seil. Dann zog er Vinculus die Hose aus und betrachtete seinen Körper: den Leichnam eines zweibeinigen Tieres auf einem öden winterlichen Moor.
Die seltsamen Zeichen bedeckten jeden Zoll seiner Haut mit Ausnahme seines Gesichts, seiner Hände, Geschlechtsteile und Fußsohlen. Er sah aus wie ein blauer Mann mit weißen Handschuhen und einer weißen Maske. Je länger Childermass ihn betrachtete, umso mehr meinte er, dass die Zeichen etwas bedeuteten. »Das sind die Lettern des Königs«, sagte er schließlich. »Das ist Robert Findhelms Buch.«
In diesem Augenblick begannen scharfe eisige Schneeflocken zu fallen. Der Wind blies heftiger.
Childermass dachte an Strange und Norrell in zwanzig Meilen Entfernung und lachte laut heraus. War es nicht vollkommen bedeutungslos, wer die Bücher in Hurtfew las? Das Wertvollste aller Bücher lag nackt und tot in Schnee und Wind.
»Tja«, sagte er, »sind sie also mir zugefallen. ›Die größte Ehre und die größte Bürde, die einem Menschen in diesen Zeiten zuteil werden.‹«
Im Augenblick war die Bürde offensichtlicher als die Ehre. Das Buch hatte eine überaus unhandliche Form. Er hatte keine Ahnung, wie lange Vinculus schon tot war oder wie bald er zu verwesen beginnen würde. Was sollte er tun? Er könnte es riskieren und die Leiche auf sein Pferd legen. Aber ein frisch gehängter Mann wäre schwer zu erklären, sollte er unterwegs jemandem begegnen. Er könnte die Leiche verstecken und Pferd und Wagen holen. Wie lange würde das dauern? Und wenn unterdessen jemand die Leiche fand und mitnahm? In York gab es Ärzte, die für Leichen zahlten und keine Fragen
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