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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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sich wieder seiner Betrachtung der Leiche zu, als hätte er genug von ihm.
    Childermass schaute sich nach einem Pferd oder einer Kutsche um, nach irgendeinem Hinweis, wie der Mann hierher gekommen war. Er sah nichts. In dem ganzen großen Moor gab es nur zwei Männer, ein Pferd, die Leiche und den Weißdornbaum.
    Aber irgendwo muss eine Kutsche sein, dachte er. Auf seinem Mantel ist nicht ein Schmutzspritzer und auch nichts an seinen Stiefeln. Er schaut aus, als käme er gerade von seinem Kammerdiener. Wo sind seine Diener?
    Das war ein beunruhigender Gedanke. Childermass bezweifelte nicht, dass er diesen blassen, dünnen, poetisch aussehenden Mann ohne große Mühe würde überwältigen können, aber ein Kutscher und zwei oder drei stämmige Diener wären etwas völlig anderes.
    »Gehört Ihnen das Land hier, Sir?«, fragte er.
    »Ja.«
    »Und wo ist Ihr Pferd? Wo ist Ihre Kutsche? Wo sind Ihre Diener?«
    »Ich habe kein Pferd, John Childermass. Ich habe keine Kutsche. Und nur einer meiner Diener ist hier.«
    »Wo?«
    Ohne aufzublicken, hob der Mann den Arm und deutete mit einem dünnen blassen Finger.
    Childermass blickte verwirrt hinter sich. In seinem Rücken stand niemand. Nur der Wind blies über die verschneiten Grasbüschel. Was meinte er? Den Wind oder den Schnee? Er hatte von mittelalterlichen Zauberern gehört, die diese oder andere Naturkräfte als Diener beanspruchten. Langsam begann er zu begreifen. »Was? Nein, Sir, Sie irren sich. Ich bin nicht Ihr Diener!«
    »Du hast damit geprahlt, es ist noch keine drei Tage her«, sagte der Mann.
    Es gab nur eine Person, die behaupten konnte, Childermass' Herr zu sein. War das auf irgendeine mysteriöse Weise Norrell? Ein Aspekt von Norrell? In der Vergangenheit waren Zauberer bisweilen in unterschiedlichen Gestalten aufgetreten, die den Eigenschaften ihres Charakters entsprachen. Childermass überlegte, welcher Aspekt von Gilbert Norrells Charakter sich plötzlich als blasser, gut aussehender Mann mit einem sonderbaren Akzent und großer Autorität manifestieren könnte. In letzter Zeit waren merkwürdige Dinge geschehen, aber etwas so Merkwürdiges nicht. »Sir!«, rief er. »Ich habe Sie gewarnt. Lassen Sie die Leiche in Ruhe.«
    Der Mann beugte sich tiefer über Vinculus' Leichnam. Er nahm etwas aus seinem eigenen Mund – eine winzige Perle, leicht von schwachem rosasilbrigem Licht gefärbt. Er legte sie in Vinculus' Mund. Die Leiche erbebte. Es war nicht das Schaudern eines kranken Mannes, ebenso wenig wie das Frösteln eines gesunden Menschen; es war wie das Zittern eines kahlen Birkenwaldes, wenn der Frühling seinen Atem über ihn gehen lässt.
    »Entfernen Sie sich von der Leiche, Sir!«, schrie Childermass. »Ich werde Sie nicht noch einmal auffordern.«
    Der Mann blickte nicht einmal auf. Er fuhr mit der Fingerspitze über die Leiche, als würde er darauf schreiben.
    Childermass zielte mit der rechten Hand neben die linke Schulter des Mannes, in der Absicht, ihn zu erschrecken. Er feuerte; eine Wolke aus Rauch und der Geruch nach Schießpulver stiegen von der Pfanne auf; das Rohr spie Funken und noch mehr Rauch.
    Aber die Kugel weigerte sich zu fliegen. Sie hing in der Luft wie in einem Traum. Sie drehte sich, blähte sich auf und veränderte die Gestalt. Plötzlich wuchsen ihr Flügel, dann verwandelte sie sich in einen Kiebitz und flog davon. Im gleichen Augenblick wurde Childermass' Geist so ruhig und starr wie ein Stein.
    Der Mann fuhr mit dem Finger über Vinculus, und die Muster und Symbole flossen und wirbelten, als wären sie auf Wasser geschrieben. Er tat das eine Weile, und als er zufrieden war, ließ er es sein und stand auf.
    »Du irrst dich«, sagte er zu Childermass. »Er ist nicht tot.« Er trat zu Childermass und stellte sich direkt vor ihn. So umstandslos wie Eltern einem Kind das Gesicht säubern, leckte der Mann den Finger ab und tupfte je ein Symbol auf Childermass' Lider, auf seine Lippen und über sein Herz. Dann stieß er gegen Childermass' linke Hand, so dass die Pistole zu Boden fiel. Er malte ein weiteres Symbol auf Childermass' Handfläche. Dann drehte er sich um und wollte offensichtlich gehen, aber er blickte zurück, besann sich und machte eine letzte Geste über dem Schnitt in Childermass' Gesicht.
    Der Wind fuhr in den fallenden Schnee, ließ ihn stieben und schweben. Brewer gab ein Geräusch von sich, als hätte ihn etwas erschreckt. Der Schnee und die Schatten schienen für einen Augenblick das Bild eines dünnen

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