Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
Vom Netzwerk:
dunklen Mannes in Mantel und Stiefeln zu bilden. Im nächsten Moment war das Trugbild verschwunden.
    Childermass blinzelte. »Was tue ich hier?«, fragte er sich gereizt. »Und warum spreche ich mit mir selbst? Jetzt ist nicht die Zeit zum Träumen.« Es roch nach Schießpulver. Eine seiner Pistolen lag im Schnee. Als er sie aufhob, war sie noch warm, als hätte er sie vor kurzem abgefeuert. Das war seltsam, aber die Zeit reichte nicht, um angemessen überrascht zu sein, denn ein Geräusch ließ ihn aufblicken.
    Vinculus war dabei aufzustehen. Unbeholfen und fuchtelnd wie etwas Neugeborenes, das noch nicht weiß, wozu es Gliedmaßen hat. Er stand einen Moment lang da, sein Körper schwankte, sein Kopf zuckte hin und her. Dann öffnete er den Mund und schrie Childermass an. Aber der Laut, der aus seinem Mund kam, war kein Laut; es war die leere Haut eines Schreis ohne Fleisch und Knochen.
    Es war zweifellos das Merkwürdigste, was Childermass jemals gesehen hatte: ein nackter blauer Mann mit blutunterlaufenen Augen, der mitten in einem verschneiten Moor lautlos schrie. Es war eine so außergewöhnliche Situation, dass er eine Weile nicht wusste, was er tun sollte. Er fragte sich, ob er es mit dem Zauber der Wiederherstellung geflohener Ruhe von Gilles de Marston versuchen sollte, aber nach kurzem Nachdenken fiel ihm etwas Besseres ein. Er holte den Rotwein heraus, den Lucas ihm mitgegeben hatte, und hielt ihn Vinculus hin. Vinculus beruhigte sich und blickte die Flasche starr an.
    Eine Viertelstunde später saßen sie beide auf einem Grasbüschel unter dem Weißdornbaum und frühstückten – mit Rotwein und ein paar Äpfeln. Vinculus hatte Hemd und Hose angezogen und sich in Brewers Decke gewickelt. Er erholte sich erstaunlich schnell vom Erhängtwerden. Seine Augen waren noch immer blutunterlaufen, aber nicht mehr so beunruhigend anzusehen. Er sprach mit heiserer Stimme und wurde immer wieder von heftigen Hustenanfällen unterbrochen, aber man konnte ihn verstehen.
    »Jemand hat versucht, dich zu hängen«, erzählte Childermass. »Ich weiß nicht, wer oder warum. Gott sei Dank habe ich dich rechtzeitig gefunden und abgeschnitten.« Als er das sagte, spürte er, dass eine leise Frage seine Gedanken störte. Er sah Vinculus vor seinem geistigen Auge, tot auf dem Boden liegend, und eine schmale weiße Hand, die deutete. Wer war das gewesen? Die Erinnerung entglitt ihm. »Sag mir«, fuhr er fort. »Wie wird ein Mann zu einem Buch? Ich weiß, dass Robert Findhelm deinem Vater das Buch gegeben hat und er es zu dem Mann in den Hügeln von Derbyshire bringen sollte.«
    »Der letzte Mann in England, der die Lettern des Königs lesen konnte«, krächzte Vinculus.
    »Aber dein Vater hat das Buch nicht abgeliefert. Stattdessen hat er es bei der Wettsauferei in Sheffield aufgegessen.«
    Vinculus trank noch einmal aus der Flasche und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Vier Jahre später wurde ich geboren, und die Lettern des Königs waren auf meinen kleinen Körper geschrieben. Als ich siebzehn war, habe ich den Mann in Derbyshire gesucht – er hat gerade noch lange genug gelebt, dass ich mit ihm reden konnte. Das war eine Nacht! Eine sternenfunkelnde Sommernacht, als das Buch des Königs und der letzte Leser der Lettern des Königs sich trafen und zusammen Wein tranken. Wir saßen auf der Kuppe des Hügels bei Bretton, schauten hinaus auf England, und er las von mir das Schicksal Englands ab.«
    »Und das war die Prophezeiung, die du Strange und Norrell vorgetragen hast?«
    Vinculus, der einen weiteren Hustenanfall hatte, nickte. Als er wieder sprechen konnte, sagte er: »Und auch dem namenlosen Sklaven.«
    »Wem?«, fragte Childermass stirnrunzelnd. »Wer ist das?«
    »Ein Mann«, erwiderte Vinculus. »Es war Teil meiner Aufgabe, seine Geschichte zu tragen. Er fing an als Sklave. Wird bald König sein. Sein richtiger Name wurde ihm bei seiner Geburt verweigert.«
    Childermass dachte kurz darüber nach. »Du meinst John Uskglass?«
    Vinculus gab einen ärgerlichen Laut von sich. »Hätte ich John Uskglass gemeint, hätte ich es gesagt. Nein, nein. Er ist überhaupt kein Zauberer. Er ist ein Mann wie du und ich.« Er überlegte. »Aber schwarz«, fügte er hinzu.
    »Ich habe nie von ihm gehört«, sagte Childermass.
    Vinculus sah ihn amüsiert an. »Selbstverständlich nicht. Du hast dein ganzes Leben in der Tasche des Zauberers aus Mayfair verbracht. Du weißt nur, was er weiß.«
    »Na und?«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher