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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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Manchester, gegen gelehrte Gilden von Zauberern im Allgemeinen, gegen sämtliche Zauberer jedweder Art.
KAPITEL 13
Der Zauberer aus der Threadneedle Street
Dezember 1807
    Der berühmteste Straßenzauberer Londons war zweifelsohne Vinculus. Die Bude, in der er als Zauberer tätig war, stand vor der Kirche St. Christopher Le Stocks in der Threadneedle Street, gegenüber der Englischen Staatsbank, und es ist schwer zu sagen, was berühmter war: die Bank oder die Bude.
    Doch der Grund für Vinculus' Berühmtheit – oder Berüchtigtkeit – war ein wenig mysteriös. Er war auch kein besserer Zauberer als jeder andere Scharlatan mit strähnigem Haar und einem schmutzig gelben Vorhang. Seine Zaubersprüche waren wirkungslos, seine Weissagungen trafen nicht ein, und seine Trancezustände waren ohne jeden Zweifel vorgetäuscht.
    Viele Jahre lang widmete er sich wie ein Besessener tiefgründigen und gewichtigen Unterredungen mit dem Geist der Themse. Dabei fiel er in Trance und befragte den Geist, worauf die Stimme des Geistes sich in tiefem, wässrigem und windigem Tonfall äußerte. An einem Wintertag im Jahr 1805 zahlte eine Frau ihm einen Schilling, damit er den Geist befragte, wo sie ihren weggelaufenen Ehemann finden könnte. Der Geist wartete mit einer langen Liste ziemlich überraschender Informationen auf, und allmählich versammelte sich um die Bude eine Menschenmenge, um ihm zuzuhören. Einige der Umstehenden glaubten an Vinculus' Fähigkeiten und waren von der Rede des Geistes gebührend beeindruckt, doch andere begannen den Zauberer und seine Kundin zu verhöhnen. Einer der Spötter (ein einfallsreicher Kerl) schaffte es sogar, Vinculus' Schuhe in Brand zu setzen, während er sprach. Vinculus kam sofort aus seiner Trance heraus: Er hüpfte jaulend herum und versuchte gleichzeitig, die Schuhe auszuziehen und das Feuer auszutreten. Er warf sich hin und her, und die Menge sah ihm vergnügt zu, als plötzlich etwas aus seinem Mund sprang. Zwei Männer hoben es auf und untersuchten es: Es war eine kleine, höchstens vier Zentimeter lange Vorrichtung aus Metall. Sie ähnelte in gewisser Hinsicht einer Mundharmonika, und als einer der Männer sie sich in den Mund steckte, war auch er in der Lage, mit der Stimme des Geistes der Themse zu sprechen.
    Trotz solcher öffentlicher Erniedrigungen bewahrte Vinculus eine gewisse Autorität, eine gewisse angeborene Würde, was dazu führte, dass er, im Vergleich mit all den anderen Straßenzauberern Londons, mit einem gewissen Maß an Respekt behandelt wurde. Mr. Norrells Freunde und Bewunderer drängten ihn ständig, er möge Vinculus doch einmal einen Besuch abstatten, und waren überrascht, dass er keine Neigung dazu zeigte.
    Eines Tages Ende Dezember, als Sturmwolken den Himmel über London in alpine Landschaften verwandelten, als der Wind so wütete, dass die Stadt im einen Augenblick in Düsternis versank und im nächsten im Sonnenlicht erstrahlte, als der Regen gegen die Fensterscheiben prasselte, saß Mr. Norrell behaglich in seiner Bibliothek nahe dem freundlichen Feuer. Der Teetisch vor ihm war mit einer Vielzahl Leckereien gedeckt, und in den Händen hielt er Die Sprache der Vögel von Thomas Lanchester. Auf der Suche nach einer Lieblingsstelle blätterte er gerade in den Seiten, als er von einer lauten und verächtlichen Stimme bis ins Mark erschüttert wurde: »Zauberer! Sie glauben, Sie haben mit Ihren Taten alle beeindruckt!«
    Mr. Norrell blickte auf und stellte mit Erstaunen fest, dass sich noch jemand im Zimmer befand, eine Person, die er vorher noch nie gesehen hatte, ein dünner, schmuddeliger, zerlumpter habichtähnlicher Mann. Sein Gesicht hatte die Farbe von drei Tage alter Milch, sein Haar hatte die Farbe eines verrußten Londoner Himmels, und seine Kleider hatten die Farbe, die die Themse im schmutzigen Wapping annahm. Nichts an ihm – weder Gesicht noch Haare noch Kleider – war besonders sauber, doch in allen anderen Punkten entsprach er dem Bild, das man sich gemeinhin von einem Zauberer machte (dem Mr. Norrell sicherlich nicht entsprach). Er stand kerzengerade da, und seine scharfen grauen Augen blickten gebieterisch.
    »Oh ja!«, fuhr diese Person fort und starrte Mr. Norrell wütend an. »Sie halten sich für einen großen Mann. Nun, Zauberer, dann sollen Sie eins wissen: Ihre Ankunft wurde schon vor Jahren vorhergesagt. Ich habe die letzten zwanzig Jahre auf Sie gewartet. Wo haben Sie sich versteckt?«
    Mr. Norrell saß in erstauntem Schweigen da

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