Jones, Diana Wynne
Dachplatten sind überhaupt nicht trittsicher. Du hättest dich zu Tode stürzen können!«
»Zu Tode, mein Entchen!«, rief die Amme.
Moril ließ die langen Standpauken Ganners und der Amme über sich ergehen, ohne auch nur ein Wort davon zu hören. Mit ihm geschimpft hätten beide ohnehin, aber Moril war überzeugt, dass Ganners Tirade vor allem dazu diente, von dem blonden Mann abzulenken. Auch Moril wollte nun nicht mehr über ihn sprechen. Er wollte nur eins: weg von ihnen und Lenina suchen.
Lenina stand in der großen Halle des Hauses, vermutlich dem gleichen Raum, in dem Clennen vor siebzehn Jahren gesungen und Ganner den Streich seines Lebens gespielt hatte. Fröhlich leitete sie die Vorbereitungen des Hochzeitsschmauses, als hätte sie ihr ganzes Leben nichts anderes getan. Moril musste sie am Ärmel zupfen, damit sie überhaupt auf ihn aufmerksam wurde.
»Mutter! Ich hab einen der Männer gesehen, die Vater getötet haben! Er ist hier!«
»Ach, Moril, stör mich jetzt nicht mit deinen albernen Geschichten«, erwiderte Lenina unwirsch.
»Aber ich habe ihn gesehen«, beharrte Moril.
»Du musst dich täuschen«, widersprach Lenina. Sie entzog ihm ihren Ärmel und ging an die Tische zurück.
Moril blieb erschrocken mitten in der Halle stehen. Er konnte es nicht fassen. Seine Mutter wollte ihm nicht glauben. Sie hatte Clennen und das Leben an seiner Seite hinter sich gelassen und mochte nicht mehr daran erinnert werden. Doch wenn Ganner bei Clennens Tod seine Hand im Spiel gehabt hatte, dann konnte sie nicht bei ihm bleiben – dann mussten sie alle von hier verschwinden. Moril betrachtete Lenina, die fröhlich ganz in ihrer Beschäftigung aufging, schüttelte betrübt den Kopf und eilte davon. Er musste Brid finden.
Brid kam ihm durch den Garten entgegengerannt. »Moril – «
»Einer der Männer, die Vater ermordet haben«, sagte Moril. »Er ist hier.«
»Ich weiß«, sagte Brid. »Ich hab ihn gesehen. Hast du Mutter schon davon erzählt?«
»Ich hab’s versucht. Sie wollte mir nicht zuhören.«
»Mir auch nicht. Ich glaube, sie will es einfach nicht wahrhaben. Was tun wir nur, Moril? Hier können wir doch nicht bleiben, oder? Glaubst du, dass Ganner unseren Vater ermorden ließ?«
Moril dachte über die Frage nach. Ganner hatte sich zwar sehr gefreut, als er Lenina wiedersah, aber er schien nicht sonderlich überrascht. Und das beunruhigte Moril zutiefst. »Ich weiß nicht. Es könnte schon sein. Aber er kommt mir irgendwie zu zaghaft für einen solchen Plan vor, meinst du nicht auch?«
»Und wenn er Vater so sehr gehasst hat, weil er ihm die Frau weggeschnappt hatte, warum hat Ganner ihn dann nicht schon vor Jahren umbringen lassen?«, fragte Brid. »Aber mir ist es egal, ob er es getan hat oder nicht. Ich bleibe nicht hier, und damit basta.«
»Aber Mutter bleibt hier«, entgegnete Moril. »Und ich glaube, davon lässt sie sich nicht abbringen.«
»Dann müssen wir eben ohne sie gehen«, sagte Brid. »Ich kann kochen, und wir haben jetzt gute neue Kleider. Nur spiele ich leider nicht so gut die Handorgel.«
Moril hatte das Gefühl, sie hätten ihre Entscheidung nicht erst jetzt gefällt; ihm kam es vor, als habe er die ganze Zeit über gewusst, dass sie bald wieder aufbrechen würden. »Aber wie sollen wir uns durchschlagen?«, fragte er. »Wie sollen wir auftreten, wenn uns sogar Dagner fehlt?«
»Dagner muss eben auch mitkommen«, erklärte Brid. »Er muss. Er ist Vaters Erbe, darum gehört es sich so. Außerdem hat er hier genauso wenig verloren wie wir. In den alten Zeiten hätte er Vater rächen müssen.«
Moni plagten noch immer Zweifel. Wozu Dagner auch immer nach Brids Meinung verpflichtet war, für Moril stand eins fest: Dagner würde bei Lenina bleiben wollen. Ohne sagen zu können, woher er es wusste, war ihm klar, dass Dagner der Mutter immer näher gestanden hatte als dem Vater. Und wie sollte Dagner als Barde sein Brot verdienen, wenn er vor jedem Auftritt Herzklopfen bekam und sich förmlich davor fürchtete? »Aber würde Dagner das wirklich tun – von allein? Ich meine – «
»Ich weiß genau, was du meinst«, sagte Brid. »Aber mit Dagner werde ich schon fertig. Ich bin immer mit ihm fertig geworden, solange die Eltern nicht in der Nähe waren und sich einmischten.«
»Na los, dann suchen wir ihn«, meinte Moril.
Beide hatten sie Dagner schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Da sie nicht wussten, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollten, gingen sie als Erstes
Weitere Kostenlose Bücher