Jones, Diana Wynne
Hauptstraße zu suchen, bog er in den nächsten schmalen Feldweg ein, der nach Norden führte, und drehte sich immer wieder auf dem Kutschbock um, um zu sehen, ob Ganner ihnen folgte.
Olob schritt entschlossen voran, er hatte die Ohren fröhlich aufgestellt. Der Feldweg und auch die anderen Wege, die sie danach nahmen, führten durch Haine von Apfelbäumen, die gerade in Blüte standen. Die Sonne strahlte mild und freundlich auf sie herab. Müde, aber mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht saß Moril im Wagen und lauschte dem vertrauten Hufklappern Olobs. Hinter ihm schwappte gluckernd der Wein in dem großen Weinkrug umher, und in den Apfelbäumen sangen die Amseln. Das war das richtige Leben für ihn! In diesem Moment war er ganz zuversichtlich, dass sie schon durchkommen würden, egal, was Lenina dachte. Ein Kuckuck übertönte die Amseln mit seinem Ruf.
»O-oh!«, stöhnte Brid. Tränen kullerten ihr die Wangen hinunter. »Vater hat zu mir gesagt – am See –, dass er dieses Jahr noch keinen Kuckuck gehört hätte. Und dass es ihm so Leid täte, nie wieder einen zu hören.« Ihr Gesicht verzerrte sich vor Trauer, und die Tränen flossen noch schneller. »Er hat mir gesagt, auf dem Weg in den Norden soll ich ihnen an seiner statt zuhören. Und Mutter fährt einfach so nach Markind! Wie konnte sie nur!«
»Sei still, Brid«, sagte Dagner verlegen.
»Ich bin nicht still! Ich will nicht still sein! Wie konnte sie nur! Wie konnte sie ihm das nur antun! Ganner ist so dumm. Wie konnte sie nur!«
»Wirst du jetzt still sein!«, rief Dagner. »Du begreifst überhaupt nichts.«
»O doch, ich verstehe sehr gut!«, weinte Brid. »Ganner und Mutter haben Vater ermorden lassen – das ist passiert!«
»Rede nicht solchen haarsträubenden Unsinn!«, fuhr Kialan sie an. »Das hatte nichts mit ihnen beiden zu tun.«
»Woher willst du das wissen?«, schluchzte sie. »Und warum ist sie dann schnurstracks zu Ganner gegangen?«
»Weil sie das schon immer tun wollte, darum!«, antwortete Dagner. »Aber sie tat es nicht, weil sie es für ehrlos hielt. Ich sagte dir doch, dass du nicht verstehst«, fuhr er in ungewohnter Aufregung fort. »Du bist noch zu klein, um so etwas zu bemerken. Aber ich habe… na, ich habe jedenfalls genug gesehen, um zu wissen, dass Mutter das Leben im Wagen und unser Umherziehen gehasst hat. Sie ist nicht so aufgewachsen wie wir. Solange wir zum Haus des Grafen von Hannart gehörten, ging es ja – wir hatten ein Dach über dem Kopf, da war es nicht so schlimm für sie, aber … daran erinnert ihr euch wohl nicht.«
»Nicht besonders gut«, gab Brid schniefend zu. »Ich war erst drei, als wir Hannart verließen.«
»Aber ich es weiß es noch«, sagte Dagner. »Vater ist damals aufgebrochen, obwohl er wusste, dass Mutter bleiben wollte. Und sie musste uns im Wagen aufziehen und uns saubermachen und für uns kochen – in ihrem ganzen Leben hatte sie so etwas noch nie getan. Manchmal hatten wir überhaupt kein Geld, und wir waren immer unterwegs und… – nun, Vater tat manches, was sie nicht mochte. Aber Vater hat sich immer durchgesetzt. Mutter hatte nie irgendetwas zu sagen. Sie tat nur die Arbeit. Dann, nach all den Jahren, sah sie Ganner in Derent wieder, und sie hat mir gesagt, dass ihr altes Leben sie mit dieser Begegnung eingeholt habe, und sie fühle sich deswegen schrecklich. Ich kann ihr nicht verübeln, dass sie wieder ein Leben führen wollte, wie sie es gewohnt war. Ihr merkt ja selbst, dass Ganner sie nicht herumkommandieren wird wie Vater.«
»Vater hat sie doch nicht ›herumkommandiert‹!«, empörte sich Brid. »Er hat ihr sogar angeboten, sie zu Ganner zurückzubringen.«
»Ja, und im ersten Moment glaubte ich, Mutter würde ihn zwingen, Farbe zu bekennen«, sagte Dagner. »Er wusste verflixt gut, dass Mutter ihn nicht verlassen würde, weil sie so pflichtbewusst ist, aber einen Moment lang war er doch beunruhigt, oder? Und danach hat er dann ganz deutlich herausgestellt, wie viel klüger er doch sei als Ganner.«
»Das war eben so seine Art«, sagte Brid.
»Das war alles so seine Art«, wiederholte Dagner. »Hör zu, Brid, ich möchte Vater genauso wenig herabsetzen wie du, aber in mancher Hinsicht war er… tja, unerträglich. Und wenn du genauer darüber nachdenkst, dann wird dir schnell klar, dass Mutter und er eigentlich gar nicht zusammengepasst haben.«
Moril stutzte ein wenig, als er das hörte. Es sah Dagner gar nicht ähnlich, so viel und so deutlich zu
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