Jones, Diana Wynne
vor dem Gefängnis erreichte, wünschte er sich aus ganzem Herzen, sie hätten Markind nie verlassen.
»Bitte«, sagte er zu dem Mann, der hier Wache stand, »ich möchte meinen Bruder sehen.«
Der Mann schaute ihn nicht unfreundlich an. »Den Sohn von Clennen dem Barden?« Moril nickte. »Und wie alt bist du, Junge?«, fragte der Mann.
»Elf.«
»Elf bist du?«, wiederholte der Wachposten. »Man hängt deinesgleichen erst, wenn ihr fünfzehn seid, also hast du Glück.« Moril dachte, der Mann müsse wohl einen Scherz gemacht haben, und lächelte höflich. »Hör zu, mein Junge«, sagte der Mann. »Ich gebe dir einen guten Rat. Setz dich in euren Wagen und fahr weg. Hier kannst du nichts mehr ausrichten.«
Moril blickte ihn in hilflosem Ärger an. »Aber – «
»Verschwinde!«, beschwor ihn der Mann. Hinter ihm kamen Schritte aus dem dunklen Gang. Moril erkannte, dass der Wächter es nur gut mit ihm meinte, aber er rührte sich nicht vom Fleck, sondern wartete, um zu sehen, ob die Person, die sich näherte, ihn vielleicht zu Dagner bringen würde.
Der Herbeikommende war einer der beiden Männer, die Dagner verhaftet hatten. Er schaute Moril ohne großes Interesse an, stutzte und bedachte ihn mit einem scharfen Blick. »Das ist noch einer von ihnen, oder?«
»Jawohl, Herr«, antwortete der Torwächter und sah Moril tadelnd an, als wolle er sagen: ›Da siehst du, was du dir eingebrockt hast.‹
»Komm mit, Junge«, sagte der andere Mann. Morils Magen drehte sich um wie noch nie zuvor, nicht einmal vor der letzten Vorstellung, aber er folgte dem Mann in den dunklen Gang, über einen trostlosen Hof und dann eine steinerne Treppe hinauf. Sie betraten einen kahlen Raum mit gelben Wänden, in dem nur eine Bank stand. Dort, so wies der Mann an, solle er sich hinsetzen und warten. Dann ging er hinaus und verriegelte die Tür.
Moril blieb eine Weile auf der Bank sitzen und fühlte sich schrecklich. Er fragte sich, ob er jetzt auch verhaftet war. Es sah ja ganz danach aus. Er versuchte, aus dem Fenster zu sehen, aber es war zu hoch und außerdem vergittert. Auch als er die Bank darunter gestellt hatte und darauf geklettert war, konnte er nichts außer grauen Mauern erkennen. Die Gitterstäbe waren zu eng, um sich zwischen ihnen hindurchzuwinden. Er zog die Bank an ihren ursprünglichen Platz und setzte sich wieder.
Dann begann das Schlimmste. Er konnte es einfach nicht ertragen, zwischen Mauern eingesperrt zu sein. Ihm war heiß. Er saß in der Falle. Der Raum schien mit jeder Sekunde kleiner zu werden, und die Decke schien sich auf ihn herabzusenken. Er fürchtete schon, laut schreien zu müssen. Fast hätte er auch geschrien, doch da erregte zum Glück ein Fleck auf der gegenüberliegenden Wand seine Aufmerksamkeit. Der Fleck ähnelte in der Form dem Gebirge zwischen Wassersturz und Hannart.
Moril entfloh dankbar in einen Traum. Er stellte sich Berge mit schneebedeckten Kuppen vor und vergaß, wie heiß ihm war. Er dachte an weite Täler und den Himmel darüber, und der kleine Raum ließ sich leichter ertragen. Ihm kamen die alten Grünen Straßen des Nordens in den Sinn und Osfameron und der Adon, die sie bereist hatten. Er wurde selbst zu Osfameron. Gemeinsam mit seinem Freund, dem Adon, machte er sich auf den Weg ins Hannart seiner Fantasie. Auf dem Berg gerieten sie in einen feindlichen Hinterhalt und mussten sich den Weg freikämpfen. Dann zogen sie nach Hannart weiter und schlenderten dort vor der alten grauen Burg unter den Ebereschen entlang; dort ließen sie sich nieder und komponierten ein Siegeslied.
Die Tür ging auf, und ein anderer Mann befahl Moril mitzukommen, und zwar hurtig.
Schlagartig kehrte Moril in die Gegenwart zurück. Er hatte Angst, er zitterte und fühlte sich klein. Jedes einzelnen Steins und Flecks in diesem bedrückenden Raum war er sich bewusst, der Maserung der Holztür, des Schmutzes unter den Fingernägeln der Hand, mit der der Mann sie offen hielt. Er wusste sogar, dass aus dem Muttermal auf der Nase des Mannes sechs Haare wuchsen. Beim Aufstehen erinnerte sich Moril plötzlich, wie Clennen am See zu ihm gesagt hatte: ›Noch bist du in zwei Hälften gespalten.‹ Und er fragte sich, ob Clennen diesen eigenartigen Zustand gemeint haben konnte.
Der Mann führte ihn in einen langgestreckten, beeindruckenden Saal, an dessen Ende ein schwerer alter Tisch stand. Dahinter saß ein ältlicher Mann, neben ihm ein jüngerer, der sich unablässig Notizen machte. An der Goldkette, die
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