Jones, Diana Wynne
der Ältere um den Hals trug, erkannte Moril, dass er einen Richter vor sich hatte.
»Stell dich vor den Tisch und antworte deutlich«, befahl der jüngere Mann, indem er das Schreiben unterbrach und mit der Feder auf Moril zeigte.
Moril gehorchte. Er bebte noch immer. Er kannte jede Wölbung in der recht nichtssagenden Schnitzerei, die über dem Richter an der Wand hing. Er konnte auch sagen, wie viele Runzeln in der Stirn des Richters waren: fünfzehn gelbliche Falten.
Der Richter zog die Brauen zusammen, sodass die Falten sich vertieften, und blickte Moril an. »Voller Name?«
»Osfameron Tanamoril Clennensohn«, antwortete Moril. »Ich möchte gern meinen Bruder sprechen, bitte.«
»Ganz schöner Zungenbrecher«, bemerkte der Richter, während der andere Mann den Namen niederschrieb. »Osfameron?«
»Er war mein Urahne«, sagte Moril. Als er sah, dass der Richter interessiert seine gelbliche Stirn runzelte, erklärte er: »Ich bin nach ihm benannt. Und dürfte ich bitte Dagner sehen?« Die gelben Runzeln zogen sich enger zusammen. »Meinen Bruder«, sagte Moril geduldig.
»Deinen Bruder?«, fragte der Richter. Der andere Mann reichte ihm einen Papierstoß, und der Alte zog die Stirnfalten noch enger zusammen, bis sie wie eine Smokarbeit aussahen. »Noch ein Zungenbrecher«, sagte er.
Moril spürte leichtes Magengrimmen, als er begriff, dass auf den Papieren Dagners Antworten auf die Fragen stehen mussten, die sie ihm gestellt hatten. Was hatte Dagner wohl gesagt? Wenn er das nur gewusst hätte! Denn wenn er andere Antworten gab als Dagner, dann verurteilte der Richter Dagner vielleicht für alle möglichen Dinge, die dieser nie getan hatte. »Wir nennen ihn kurz Dagner«, erklärte er vorsichtig. »Und ich möchte ihn gern sehen, bitte.«
»Du kannst ihn bald sehen, wenn du meine Fragen ehrlich beantwortest«, sagte der Richter. »Du stammst aus einer Bardenfamilie, ist das richtig?«
»Ja«, antwortete Moril.
»Und du bist mit deinem Vater durchs Land gezogen, ihr habt Vorstellungen gegeben?«
»Ja.«
»Wie lange tust du das?«
»Mein ganzes Leben lang.«
»Und das ist wie lang?«
»Elf Jahre«, sagte Moril.
Der Schreiber beugte sich vor. »Der ältere Junge sprach von zehn Jahren.«
Der Richter krauste die Stirn und überlegte, wie alt Moril sein mochte. Er wirkte wachsam und verschlagen, und Moril war für ihn nicht mehr als ein Tatbestand, über den man im Zweifel war. Moril begriff, dass es ihm überhaupt nichts nützen würde, wenn er Brids Rat folgte und erwähnte, er sei mit dem Grafen und Ganner verwandt; nein, das wäre gar nicht klug gewesen. Er wusste zwar, dass Brid es versucht hätte, aber er wollte darauf lieber verzichten.
»Ich war noch ganz klein, als wir aufbrachen«, erklärte er.
»Von Hannart?«, fragte der Richter scharf.
»Ja, aber daran habe ich keine Erinnerung«, antwortete Moril, denn er wusste genau, dass man ihn zusammen mit Dagner in den Kerker werfen würde, wenn er zugab, was er für Hannart wirklich empfand. »Mein Vater erzählte, er hätte sich mit Graf Keril zerstritten.«
Sie verglichen seine Antworten mit Dagners Aussagen, und zu Morils Erleichterung schienen sie alle richtig gewesen zu sein. Trotzdem wirkten sie unzufrieden, und je länger das Verhör dauerte, desto unzufriedener wurden sie.
»Wo seid ihr vor Niedertal zuletzt aufgetreten?«
Moril überlegte. Das schien so lange her zu sein. Fledden? Ja, denn das war der letzte Ort vor der Baronie Markind, und in Markind waren sie nicht aufgetreten. Dort hatte Lenina Kialans Mantel ausgebessert. »In Fledden«, sagte er.
»Mit wem hat dein Bruder in Fledden geredet?«
»Mit niemandem«, sagte Moril, denn er erinnerte sich genau, dass dort ausnahmsweise einmal keine Mädchen zu Dagner gekommen waren. Nach der Aufführung hatten sie sich allein unterhalten.
»Aber du warst schließlich nicht jeden Augenblick bei ihm, den ihr in Fledden verbracht habt, nicht wahr?«, fragte der jüngere Mann.
»Doch, das war ich«, antwortete Moril. »Wir waren alle im Wagen, wisst ihr. Vater wollte, dass wir in Städten immer im Wagen blieben.«
»Immer?«, fragte der Richter und vertiefte wieder seine Stirnfalten. »Du willst mir doch wohl nicht einreden, dass dein Bruder sich niemals auf eigene Faust davongemacht hat?«
Moril begriff, dass er Dagner leicht mit der Kaninchenwilderei hereinreißen konnte, wenn er sich nicht vorsah. »Nein, nie«, beharrte er. »Außer fürs Liederdichten interessiert sich Dagner
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