Jones, Diana Wynne
können. Deshalb zog sie ihre Kreise durch den Palast immer weiter und verbrachte so die Zeit bis in den Nachmittag hinein.
Als der Nachmittag halb vorüber war, begannen im ganzen Palast die Lautsprecher der Rundsprechanlage zu knistern. Jetzt geht es los!, dachte Maewen und blieb stocksteif stehen, wo sie war, irgendwo zwischen zwei Schlafzimmern für Staatsbesuche.
»Achtung, Achtung. Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit.« Die Stimme gehörte Major Alksen. »Soeben haben wir die Meldung erhalten, eine Bombe sei auf dem Palastgelände versteckt. Ich wiederhole: Soeben haben wir die Meldung erhalten, irgendwo auf dem Palastgelände liege eine Bombe versteckt. Ich muss Sie alle auffordern, das Gelände so rasch wie möglich zu verlassen. Bitte bewahren Sie Ruhe. Diese Anweisung gilt für Besucher und Beschäftigte gleichermaßen. Bitte verlassen Sie umgehend den Palast und das Palastgelände. Vorn und hinten sind Türen und Tore geöffnet worden. Bitte benutzen Sie die nächste Tür, die Sie finden. Bitte kehren Sie nicht zurück, bevor Entwarnung gegeben wurde. Achtung, Achtung …«
Die Durchsage wurde immer wieder aufs Neue wiederholt.
Der Palast hallte von den leisen Schritten hunderter Menschen wieder, die durch die Räume hetzten, die Treppen hinuntereilten und nach den Türen suchten. Wahrscheinlich waren auch Vater und seine Damen auf dem Weg nach draußen. Maewen wollte sich dessen vergewissern. Einmal mehr führten ihre Füße sie auf den vertrauten Weg zum Büro. Die Treppe wurde jedoch von dem Büropersonal blockiert, das die Stufen herabgestürmt kam.
»Dein Vater, Liebes?«, fragte jemand, ohne stehen zu bleiben. »Herr Bard ist hinunter ins Wachbüro gegangen. Vermutlich bleibt er dort, bis das Bombenräumkommando eintrifft. Du kommst am besten mit uns.«
Maewen ließ sich zurückfallen und alle an sich vorbeigehen, bis die Treppe wieder frei war. Vater war nicht in Sicherheit, doch daran konnte sie nichts ändern. Sie ging leise wieder nach unten. Der Palast wirkte nun eigenartig leer, viel leerer als sie ihn je gekannt hatte. Während sie die Treppe hinabstieg, lief Maewen im Zickzack zwischen den hinteren und den vorderen Fenstern hin und her, ohne dass jemand sie daran hinderte, und kehrte schließlich zu den hinteren zurück. Menschen stürzten durch die Gärten hinter dem Palast und über den Vorhof. Bevor nicht jeder fort war, würde nichts geschehen, da war Maewen sich sicher. Kankredin hatte es auf sie abgesehen und niemanden sonst. Vielleicht würde er als späte Rache an Mitt auch den Palast zerstören, aber niemals würde er die vielen Touristen ermorden. Kankredin war auf die Macht über die Menschen aus, und wenn alle tot waren, konnte er sie nicht mehr ausüben.
Sie stieg weiter die Treppe herab und ließ dabei die Fenster nicht aus den Augen. Mittlerweile war sie in dem Stockwerk, das sich vorn zu den Balkons mit den Säulengängen öffnete. Die Fenster bestanden aus großen Glastüren, die Maewen durchqueren musste, um auf einen überdachten Gang zu gelangen, der auf dünnen Säulen ruhte. Sie lehnte sich über die Brüstung und blickte hinunter in den Vorhof. Als sie vom höchsten Balkon hinunterschaute, eilten noch immer einzelne Menschen über den Hof und durch das überwölbte Tor hinaus. Als sie vom nächsttieferen Stockwerk aus schaute, waren sie alle fort. Alles war leer und still – nein, doch nicht!
Maewen lehnte sich auf die Brüstung und wagte nicht, sich zu bewegen. Über den vielen Kuppeln von Amils Grabmal wogte und wand sich eine große Wolke aus etwas nahezu Unsichtbarem. Maewen entdeckte sie hauptsächlich dadurch, dass sie die Mauer und die Gebäude der Stadt dahinter in hässlichen, glasigen Wellen verzerrte. Die Wolke hatte nicht die Gestalt eines Menschen – noch nicht. Kankredin hatte es eilig, sich zusammenzufügen. Maewen befeuchtete ihre Lippen. Die Wolke war gewaltig. Kankredin schien von irgendwo her mehr seiner selbst hergeholt zu haben. Der widerliche Schimmer hatte gut die fünffache Größe des Gespensterwesens, das ihr Pferd gewesen war. Sie nahm an, sie sollte das Wort nun brüllen, doch sie hatte das Gefühl, dass das Ungetüm, das dort schwebte, schon zu groß sei, um ihm damit beizukommen.
Auf der anderen Seite des Vorhofs schlossen sich die Tore des Haupteingangs langsam. Sie wurden vom Wachbüro aus ferngesteuert und sperrten Maewen mit Kankredin ein. Aber auch Vater war hier gefangen. Sie musste etwas unternehmen.
Bevor die Tore ganz
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