Jones, Diana Wynne
Mitt!«, hörte er Riths Stimme.
Mitt drehte sich um und sah sich einer eleganten Dame gegenüber. Er war zutiefst bestürzt. Als Einziges erkannte er das längliche, sommersprossige Gesicht mit dem fröhlichen, zielstrebigen Ausdruck wieder. Nun aber war es von einer Wolke aus hellem, lockigem, zu einer höchst modischen Frisur modelliertem Haar umgeben, und sie trug ein eng geschnittenes graublaues Kleid, das sich in glänzenden Falten um eine durchaus weibliche Figur legte. Mitt bemerkte, dass sie viel älter war als er – wenigstens achtzehn oder zwanzig –, und mehr bedurfte es nicht, dass er sich wie ein Trottel vorkam. Am meisten aber bestürzte ihn, dass Noreth lebendig war, sogar sehr lebendig und warm und – ein Mensch.
»Was ist!«, rief sie. »Hat’s dir die Sprache verschlagen?«
»Äh«, sagte Mitt, »Herrin …«
»Ich habe gesagt, du sollst mich Rith nennen.«
»Ja«, sagte Mitt, »aber … warum hattest du dich als Junge verkleidet?«
»Ich reise immer so«, erklärte Noreth. »So geht es schneller und sicherer als in einer Kutsche, und ich brauche keinen Leibwächter mitzunehmen. Die Montur habe ich von meinem Vetter. Und mit Waffen kann ich auch umgehen. Das lernt man beim Grittling. Aber hör zu …« Zu Mitts Verblüffung streckte Noreth den Arm vor und ergriff seine beiden Hände. Ihre Hände waren stark und warm, aber so klein, dass Mitt sich vorkam, als hätte er zwei große kalte Pranken. »Ich bin sehr nervös«, sagte sie, und das stimmte: Mitt spürte, wie sehr ihre Hände zitterten. »Ich muss etwas Bestimmtes tun. Weißt du, wie es ist, wenn du etwas tun musst, das dein Leben so sehr verändern wird, dass es niemals mehr so sein wird wie vorher?«
»Das kannst du laut sagen!«, entgegnete Mitt. Er spürte, dass Navis hinter ihnen stand und Noreth kühl musterte. Dadurch fiel ihm ein, dass er nach seinem Anteil an der Statuette fragen musste, aber er war zu verwirrt, als dass ihm einfiel, wie er das am besten bewerkstelligen könnte.
»Das Gefühl hatte ich gleich bei dir«, sagte Noreth. »Hör zu, könntest du …« Auf der Estrade wurde es unruhig. Jemand befahl, die Laternen zu entzünden. Noreth blickte sich um. »Ach, da kommt mein Onkel«, sagte sie. »Betrunken wie immer. Ich muss nun gehen. Wenn du so freundlich wärst, den Fund der Statue zu bezeugen, wenn es so weit ist?«
»Sicher«, versprach Mitt, »aber …«
Noreth ließ ihn los und eilte davon. Alles begab sich eilends zu dem langen Tisch und setzte sich. Navis winkte Mitt auf einen Platz neben sich, unmittelbar unterhalb des erhabenen Tisches auf der Estrade. Mitt stellte fest, dass es doch seine Vorteile hatte, nach Adenmund geschickt zu werden. In Aberath hätte er mit den anderen Jungen bei Tisch bedienen müssen. Hier aber war er Gast und konnte sich setzen und von Gleichaltrigen bedienen lassen. Er lehnte sich zurück, entschlossen, es sich gut gehen zu lassen. Das Essen war sehr schmackhaft, auch wenn Mitt sich nicht viel aus der traditionellen Mittsommerwurst machte. Wie so viele Speisen im Norden schien sie ihm vor allem aus Hafergrütze zu bestehen. Es gab aber auch Wildbret und Schwein, Huhn und Rind, dazu Austernpastetchen und Kuchen mit Lamm und Pflaumen, Erdbeeren, Himbeeren mit Weinschaumcreme und süßes, mit Soda gebackenes Brot. Die ganze Zeit kreisten Bier und Weinbrände. Die Stimmen wurden zu einem fröhlichen Grollen, das beinah den noch lauteren Tumult von den Tischen auf dem Hof übertönte. Mitt aß eine Riesenportion und freundete sich mit den Gefolgsleuten an seinem Tisch an. Er musste sich aber viele Witze anhören, in denen es um Essig ging.
Baron Stair war in der Tat schon betrunken, das war unmöglich zu übersehen. Er war ein großer, blässlicher Mann; er lümmelte sich in seinen Sessel, aß nur sehr wenig und brüllte dauernd nach mehr zu trinken. Genauso oft beklagte er sich über das Essen. Niemand schenkte ihm allzu viel Beachtung. Wenn jemand ein Anliegen hatte, so wandte er sich an Frau Eltruda. Es sah ganz so aus, als übe die Gattin des Barons, klein und dick und laut wie sie war, hier die gleiche Macht aus wie die Gräfin in Aberath.
»So ist es auch«, vertraute Navis ihm an. »Ich verdanke meine Stellung hier nur Eltruda. Noreth geht es nicht anders, denke ich.«
Frau Eltruda war offensichtlich sehr stolz auf Noreth. Sie lächelte sie unentwegt voll Stolz an.
Das Festmahl ging mit süßem Rahmkäse und gezuckertem Obst zu Ende, aber Mitt hatte schon so viel
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