Jones, Diana Wynne
Boden, die von den Toren des Herrensitzes über den Hof die Treppen hinauf zu einem Kreis mitten in der Halle führten. Weil es Glück bedeutete, eine Kerze aufgestellt zu haben, rangelten alle außer Baron Stair um die Ehre – und Mitt und Navis, die den Brauch nicht kannten.
»Lasst die Unvergänglichen ein!«, riefen die Leute, als die letzte Kerze aufgestellt war.
Erwartungsvolle Stille trat ein. Vom Hof drang ein lautes Knirschen. Die beiden schweren Torflügel wurden geöffnet. Auf Hestefans Nicken stimmte Moril wieder die langsamen, gespenstischen Akkorde von ›Bei Mittsommer unvergänglich‹ an. Für Mitts Ohren klang es, als spiele er das Lied nun auf eine andere, seltsame Weise. Auf jeden Fall überlagerte nun ein eigenartiges Summen, das immer stärker wurde, die Melodie. Vom Hof blies ein feuchter Windstoß herein. Es regnete anscheinend wieder. Die Kerzenflammen neigten sich. Ein großer wallender Schatten näherte sich über den Boden und wuchs an der Wand dahinter in die Höhe.
Lodernder Ammet!, dachte Mitt, während ihm ein Schauder nach dem anderen den Rücken hinunterlief. Ich glaube, da kommt wirklich wer herein!
Doch dann verkürzte sich der Schatten und sank herab. Mitt sah nun, dass Hestefan ihn verursacht hatte, während er auf dem Kerzenweg näher kam, eine kleine Sopran-Quidder in den Händen. Als er den Lichterkreis erreichte, drehte er sich um und rief aus: »Willkommen seien die Unvergänglichen in diesem Haus, in dieser Nacht und im kommenden Jahr!« Dann spielte er auf der Quidder die gleiche langsame Melodie. Mitt fragte sich, weshalb sie nun so viel gewöhnlicher klang.
Ein dröhnender Stimmenchor entbot den Unvergänglichen seinen Gruß. Es schien Brauch zu sein, den Kelch oder Becher zu neigen und einige Tropfen Wein auf den Boden fallen zu lassen. Navis blickte Mitt an, und Mitt zuckte mit den Schultern. Dann verschütteten sie beide ein wenig Wein und richteten dabei leise ein paar Worte an Libbi Bier. Danach bildeten sich kleine Grüppchen, die sich gegenseitig lautstark Glück fürs neue Jahr wünschten. Einen Augenblick lang sah es so aus, als ginge das Fest zu Ende.
Doch plötzlich riefen alle: »Noreth! Noreth! Noreth, hast du dein Zeichen bekommen?«, und Noreth stellte sich neben Hestefan in den Kerzenkreis. Sie trug die goldene Statue bei sich und hielt sie hoch, dass jeder sie sehen konnte.
»Hier ist mein Zeichen!«, rief sie laut.
Navis murmelte Mitt zu: »Ich glaube, von deiner Hälfte kannst du dich schon einmal verabschieden.« Viele Leute jubelten, doch Baron Stair auf seiner Estrade sagte laut: »Fängt das Mädchen jetzt schon wieder mit ihrem Unsinn an?«
»Pst!«, rief jemand.
Noreth erhob wieder die Stimme. »Würde der Rechtsgelehrte meines Onkels bitte herkommen und sich neben mich stellen? Ich möchte nach Recht und Gesetz eine Erklärung abgeben.«
Auf der Rückseite des Saales erhob sich großes Gemurre. Einer der Männer stand vom hohen Tisch auf und kam, schon recht unsicher auf den Beinen und sichtlich verlegen, herbei und stellte sich zu Noreth. Sie verließ den Lichterkreis und ging auf dem Kerzenweg mit ihm zur Tür. »Ich möchte, dass mich jeder hört«, erklärte sie dem Rechtsgelehrten, als sie an Mitt vorbeigingen. »Mach mich bitte sofort darauf aufmerksam, wenn ich etwas Falsches sage.« Mitt spürte, dass die Wichtigkeit ihres Vorhabens sie zum Zittern brachte. Sein Magen verkrampfte sich.
»Du verschtehschst vom Geschetz genauscho viel wie ich«, beschwerte sich der Rechtsgelehrte, doch er ging und stellte sich neben Noreth, als sie sich in der Türöffnung aufbaute, damit sie zu den Menschen auf dem Hof ebenso sprechen konnte wie zu den Leuten im Saal. Die beiden schoben Moril einfach zur Seite. Mitt sah ihn neben der Tür stehen; er wirkte ehrfürchtig.
Noreth sagte langsam und deutlich: »Ich, Noreth von Kredinstal, bekunde und versichere heute Nacht, dass ich Erbin der Krone und rechtmäßige Königin von Dalemark bin, über den Norden wie den Süden und alle Menschen, die darin leben.«
Es ist wirklich wahr, dachte Mitt traurig. Der Rechtsgelehrte beugte sich vor und murmelte Noreth etwas zu.
»O ja. Danke«, sagte Noreth. »Und über alle Grafschaften und Marken darin, ohne die Grafen dieser Marken und die ihnen unterstehenden Barone auszuschließen. Diesen Anspruch erhebe ich durch meine Mutter, Eleth von Kredinstal, die in direkter Linie von Manaliabrid der Unvergänglichen abstammt, und durch meinen Vater, den
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