Jones, Diana Wynne
kam. Navis rannte neben ihm. Beide sahen sie so besorgt an, dass Maewen erneut die Tränen die Wangen hinunterstürzten.
»Der Mistkerl hat sich in die Büsche geschlagen!«, rief Mitt voll Abscheu.
»Was suchst du hier allein?«, verlangte Navis zu erfahren.
Maewen schluckte. »Kelch«, brachte sie hervor, aber das war alles.
»Das ist leicht zu machen«, entgegnete Navis. »Mitt, bleib bei ihr.«
Bevor Mitt irgendetwas einwenden konnte, überquerte Navis den Kies und verschwand eilig in der Kapelle.
»Bist du unverletzt?«, fragte Mitt. Unsicher streckte er beide Hände vor und wollte sie zuerst bei den Schultern nehmen, aber dann schreckte er doch davor zurück, sie zu berühren. Maewen hingegen warf sich an ihn und drückte ihr Gesicht an seine Brust. Durch die harte Kettenpanzerung spürte sie, wie sehr Mitt keuchte und sein Herz pochte. Gewiss brachte sie ihn in schwere Verlegenheit, aber trotzdem schlang sie fest die Arme um ihn. Mitt legte ihr sanft einen Arm um die Schultern und klopfte ihr auf den Rücken. »Schon gut«, sagte er. »Ist doch alles gut.«
»Ach Mitt, es tut mir alles so Leid!«, stieß Maewen hervor. »Wegen mir und wegen Hildi – wegen allem!«
»Schon gut«, wiederholte Mitt.
Zu mehr hatten sie keine Zeit, da kam Navis schon wieder aus der Kapelle. Er trug etwas, das er in ein großes Taschentuch geschlagen hatte. »War ganz einfach, seht ihr«, sagte er.
Mitt trat einen Schritt zurück. Auf seiner Jacke zeigte sich ein feuchter Fleck, wo Maewens Gesicht gewesen war, und breitete sich aus. »Einfach?«, entgegnete er atemlos. »Auf dem Kelch liegt ein Zauber! Der knistert und blitzt, wenn man ihn anfasst!«
»Da wir im Norden sind, habe ich damit gerechnet«, sagte Navis, »und darum habe ich ihn nicht angerührt. Siehst du?« Er öffnete das Taschentuch um eine Winzigkeit, sodass Mitt den Kelch sehen konnte, den er darin eingewickelt hatte. Dann stopfte Navis ihn sich in eine seiner großen Taschen. »Wir gehen nun am besten auf den großen Platz«, sagte er, während er dafür sorgte, dass die Tasche auf der anderen Seite seines Mantels sich genauso sehr ausbeulte. »Anscheinend müssen wir wohl noch an einer Verabschiedungszeremonie teilnehmen.«
Sie gingen sehr langsam. Maewen zitterte noch immer, und ihre Knie wurden immer wieder weich. Navis stützte ihr höflich den Arm, Mitt vermied es, sie zu berühren. Maewen sah, wie er immer wieder an dem feuchten Fleck rieb, den ihr Gesicht auf seiner Brust hinterlassen hatte. Sie wagte kaum, ihn anzusehen, so peinlich war ihr der Vorfall.
»Hast du Hildi zum Mitkommen überredet?«, fragte Mitt allzu beiläufig und rieb wieder über die Jacke.
»Noch nicht«, antwortete Navis.
Mitts Gesicht wurde so gepresst und knochig wie ein Schädel. »Sie muss mitkommen.«
»Das weiß ich«, sagte Navis. »Ich hoffe, dass ihre enorm große Freundin sie zur Vernunft bringen kann. Aus dieser Hoffnung heraus habe ich beiden die gesamte Geschichte erklärt.«
»Auch Biffa?«, fragte Mitt. »Ist das nicht zu gefährlich?«
»Ich vertraue ihr«, sagte Navis. »Und ihr werdet es nicht glauben, ihr richtiger Name ist Enblith!«
»Nach Enblith der Schönen!« Mitt kicherte; seine Erheiterung stand in krassem Gegensatz zu seinem gepeinigten Totenkopfgesicht.
»Unpassend, nicht wahr?«, meinte Navis. »Ihre Eltern haben sich gewaltig verkalkuliert. Nicht dass sie unhübsch wäre, das arme Kind. Sie ist nur zu groß, als dass jemand ihre Schönheit bemerkt.«
Maewen fragte sich, wie jemand mit einem gestohlenen Kelch in der Tasche so unbefangen sein konnte. Mitt versuchte es Navis an Gelassenheit gleichzutun und sagte: »Ich habe herausgefunden, wo Ynen steckt. Es mag wie eine schlechte Neuigkeit klingen, aber es könnte sich noch als gut herausstellen – sehr gut sogar.«
»Später. Sei leise«, sagte Navis.
Sie bogen um die Ecke eines überdachten Weges und fanden sich am oberen Ende einer breiten Treppe wieder, von der aus sie den größten Hof überblicken konnten. Auf den Stufen unter ihnen drängten sich die Menschen, ernste Eltern, die alle zum Hauptgebäude der Schule hinübersahen, wo sich Lehrer in grauen Mänteln in einer Reihe aufgestellt hatten. Ein Lehrer in einem blau-grauen Gewand stand vor ihnen. Vor ihnen allen hatten sich die Schüler in ihren Uniformen mit den weißen Kragen in mehreren Reihen aufgebaut.
Einen Teil der Zeremonie hatten sie offenbar schon versäumt. Mit einer Stimme, die beinahe so gut trug wie die
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