Jones, Diana Wynne
beherrschte ihn: seine Beine schneller rennen zu lassen, als er rennen konnte. Er floh vor den lauter werdenden Rufen hinter sich. Diesem Gesicht musste er unbedingt entkommen. Er schoss die Hafenstraße entlang und achtete nicht darauf, ob er gegen Menschen prallte oder ihnen auswich. Er bog in die nächste Straße ein und raste sie hoch, so schnell er nur konnte. Hinter ihm dröhnten eilige Stiefeltritte durch die Straße. Mitt steigerte sein Tempo, bog um die nächste Ecke, rannte und rannte, rannte noch schneller. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an die Rufe und die trampelnden Füße hinter sich. Er hörte nicht auf zu rennen, bis sie leiser wurden und schlussendlich verstummten.
Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, schleppte er sich mühsam um eine Ecke auf die nächste Straße. Er schämte sich fürchterlich. Was war nur in ihn gefahren? Was hatte ihn, die freie Seele, Mitt den Furchtlosen, der so viele Botendienste für die Freien Holander verrichtet hatte, ohne mit der Wimper zu zucken – was war nur in ihn gefahren, dass er allein durch den Anblick Harchads in Panik geriet und wegrannte? Mitt verstand sich selbst nicht mehr. Wie konnte man nur so viel Pech auf einmal haben?
»Hier, Kleiner. Nimm das und mach nicht so ein Gesicht.«
Mitt blickte auf und fand sich auf einer hellen Straße wieder, in einer respektablen Gegend fern vom Hafen. Die Häuser waren hübsch bemalt, und Mitt erinnerte sich dunkel an das Haus weiter hügelauf mit dem Doppelgiebel und den beiden gemalten steifen Gestalten. Auf der Straße wimmelte es von stillen, fröhlichen Menschen in respektabler Festtagskleidung, die an den Verkaufsständen, von denen die Straße gesäumt wurde, alles Mögliche erwarben. Anscheinend war hier noch nicht bekannt, was sich am Hafen zugetragen hatte; hier vergnügte sich alles nüchtern und friedlich.
Eine Frau in einem der Verkaufsstände war es, die Mitt angesprochen hatte. Sie beugte sich über Reihen kleiner Ammetts und Libbys vor und hielt Mitt einen Karamellapfel hin. Als er sie erblickte, lächelte sie und winkte einladend mit dem Stiel, auf dem der Apfel steckte. »Hier. Soll er dir Glück bringen. Du machst ja ein Gesicht so lang wie der Kooggraben, mein Lieber.«
Mitt bemühte sich, zu grinsen. Vom Rennen hatte er den Mund voll mit bitter schmeckendem Schleim. Er wollte zwar keinen Karamellapfel, aber er sah, dass die Frau es gut mit ihm meinte. »Ach, nein danke, meine Dame. Weißt du, ich habe soeben mein Lebenswerk verloren, und das hat mir den Appetit verschlagen.«
»Na, dann brauchst du aber ein Appetithäppchen«, sagte die Frau und versuchte erneut, Mitt den Karamellapfel in die Hand zu drücken.
Mitt konnte den Gedanken an den klebrigen Karamell und den sauren Apfel jedoch wirklich nicht ertragen, und er wich zurück. »Nein danke, meine Dame. Ich danke dir wirklich. Ganz ehrlich.«
»Wie du willst«, sagte sie. »Aber jetzt, wo ich damit angefangen habe, muss ich dir etwas geben, sonst bedeutet es Pech für uns beide. Hier.« Sie nahm eine der kleinen Libby-Bier-Puppen, die in einer Reihe vorn an dem Büdchen lagen, und reichte sie Mitt. »Dann nimm eben sie. Ich räume sowieso schon zusammen, damit ich gehen kann.« Mitt konnte nicht sagen, ob die Frau wirklich auf Glück hoffte oder ihn nur aufheitern wollte, aber er nahm das Püppchen und versuchte noch einmal zu grinsen. »Und versuch nur nicht, sie zu essen. Sie ist aus Wachs«, warnte ihn die Frau. »Ein glückliches Jahr wünsche ich dir.«
»Glück für dich, für Schiff und Küste«, antwortete Mitt höflich, wie es sich gehörte. Dann ging er weiter. Die kleine rundliche Figur an sich gedrückt, überlegte er, was er damit anfangen sollte. Ich könnte sie Harchad schenken, dachte er.
Er war erst drei Büdchen weiter, als hinter ihm Soldatenstiefel übers Kopfsteinpflaster knallten. Sechs Soldaten, von einem Offizier geführt, preschten um die gleiche Ecke wie Mitt und blieben vor dem Stand der freundlichen Frau stehen. »He, du! Ihr alle! Hat jemand von euch einen Jungen in Festhosen gesehen, keine Jacke, sehr dürr?«
Das leise Gemurmel auf der Straße erstarb völlig. Niemand bewegte sich. Mitt erstarrte, über den nächsten Stand gebeugt, und gab vor, die kleinen Ammets zu betrachten. Er versuchte, sich dazu zu zwingen, die Straße hinunter zu fliehen und die Soldaten hinter sich herzulocken. Aber aus einem unerfindlichen Grund kam es für ihn nicht in Frage. Er konnte nur warten, dass die Frau,
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