Jones, Diana Wynne
seine wie zugestopften Ohren ihm nicht verraten konnten: Jemand hatte seine Jacke gepackt und sie zerrissen. Er lag platt auf dem Boden, doch im nächsten Moment sprang er auf. Noch hatte man ihn nicht gefangen. Er spürte weiteres Reißen; er verlor immer mehr von seiner Jacke, rannte aber trotzdem weiter. Ich bin zu gut für die, dachte er und arbeitete sich stoßend und schiebend zwischen den großen Leibern der gewöhnlichen Leute hindurch, die sich hinter den Soldaten drängten.
Komm schon, irgendwer! Haltet mich auf!, dachte er. Aber niemand hatte Erfolg, auch wenn einige es immerhin versuchten; das glaubte Mitt zumindest. Nun konnte er ganz leise ihre Stimmen hören: »Haltet ihn auf! Lasst ihn nicht entkommen!«
Aha. Die Ohren funktionieren wieder, dachte Mitt. Ein Glück. Ich hätte ihnen die Fragen beim Verhör schließlich nicht von den Lippen ablesen können.
Froh, dass er nicht mehr taub war, rannte er weiter. Und binnen kurzem fragten die Stimmen rings um ihn schon sehr laut: »Was ist denn passiert?« und »Was soll das Geschubse?«
Zu seinem großen Erstaunen gelangte Mitt ans andere Ende der Menschenmenge und stand plötzlich in einer schmalen Straße. He!, dachte er. So geht das nicht. Er blieb stehen. Als er sich umdrehte, sah er die wogende Menschenmenge nur noch von hinten. Die Soldaten versuchten verzweifelt, sich zwischen den Leuten hindurchzudrängeln. Mitt hätte nun endgültig entkommen können. Mit ihren schweren Stiefeln konnten die Soldaten nicht schnell genug rennen.
Ich sollte es ihnen einfacher machen, dachte er und seufzte. Dann tauchte er wieder in die Menge ein.
Auf dem Platz hatte sich die Prozession wieder formiert und zockelte zum Kai. Hadd benahm sich, als sei überhaupt nichts geschehen. Kaum war Mitt zwischen den Soldaten verschwunden, schritt er weiter, als sei das Ganze keinen zweiten Gedanken wert. Hildy konnte nicht anders, sie bewunderte ihren Großvater. Solch eine Haltung war eines Grafen würdig! So zwingend war Hadds Gebaren, dass Hildy und jeder andere Zuschauer schon bald nur noch Augen für die Prozession hatte, die am Kai auf und ab schritt, trommelnd, dröhnend, quietschend, als habe Mitt nie existiert.
Mitt stand nun genau unter Hildys Fenster in der Menge und bemerkte, dass er noch immer einen roten und einen gelben Ärmel trug. Sie behinderten ihn, deshalb riss er sie ab und warf sie auf den Boden. Seine Mütze hatte er im Getümmel verloren. Hier stand er nun in seinem schäbigen Unterhemd und hoffte, die Soldaten würden ihn an seinen zweifarbigen Hosen erkennen. Aber ihn umgaben hochgewachsene Bürger, und niemand sah ihn. Über den Lärm der Prozession hinweg hörte er zudem, wie die Stiefeltritte der Soldaten in der schmalen Straße verschwanden.
Was waren manche Leute doch für Tölpel! Er musste sich wohl noch deutlicher bemerkbar machen.
Mitt folgte der bemalten Hauswand, bis er an die Vordertür kam. Sechs Stufen führten hinauf, eine Vorkehrung gegen Überflutung, wie die meisten Häuser in Holand sie besaßen. Auf den Stufen drängten sich die Menschen und starrten auf den Hafen hinaus. Mitt erstieg die Treppe und quetschte sich zwischen sie. Er war nicht zu übersehen, denn jeder blickte in seine Richtung. Doch alles hatte nur Augen für das Fest.
Die Prozession hatte nun am Kai eine lange Reihe mit Hadd und Navis in der Mitte gebildet. Die Köpfe auf den Stangen wurden gesenkt und die Girlanden abgenommen. Man schwenkte sie umher auf das Wasser, als schlüge man auf die See ein. Tatsächlich war der Wasserspiegel zu tief, um getroffen zu werden, doch das Fest ging bis auf die Tage zurück, als Holand noch ein niedriger Steinring war, und die Rituale hatten sich seitdem nicht verändert. Man sagte jedes Jahr die gleichen alten Worte:
»Zu den Gezeiten schwimme im wogenden Wasser,
geh nun und kehre wieder siebenfach.
Übers Meer zogen sie auf der Straße des Windes.
Geh nun und kehre wieder siebenfach.
Dass der Hafen halte und das Land gedeih,
geh nun und kehre wieder siebenfach.«
Jeder in der Prozession wiederholte das dreimal, ein rauer, knurrender Chor. Doch nach der dritten Wiederholung hatte Hildy vor schierer Ehrfurcht beide Arme voll Gänsehaut – warum, wusste sie nicht. Mitt brannten wie immer die Augen, und er ärgerte sich über sich selbst, dass ein Schwall überkommenen Unsinns solch eine Wirkung auf ihn ausübte. Dann entließen die Musiker einen lang gezogenen, ächzenden Akkord. Hadd hob den Armen Ammet über den
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