Jones, Diana Wynne
Ruhe, Jungchen«, sagte er jedes Mal, wenn Mitt die Leute anschrie. Nach einer Weile ereilte ihn das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. »Ein Mann muss von irgendwas leben«, erklärte er Mitt. »Ich mag meine Arbeit nicht besonders, aber was soll ein armer Junge vom Hafen tun? Wenn ich ausbezahlt werde, dann will ich auch Bauer werden, wie dein Vater.«
»Du bist in den Hafen gefallen?«, fragte Mitt, indem er auf den einzigen Teil einging, den er verstanden hatte.
Schließlich erreichten sie Grabensend. Mitts Eltern vermissten ihr Kind seit einer halben Stunde und waren nun der Panik nah. Mitts Vater begrüßte ihn mit einem festen Hieb aufs Hinterteil, und seine Mutter umarmte ihn stürmisch. Mitt sah weder für das eine noch das andere irgendeinen Grund. Sein Traumbild vom Gelobten Land war längst verblasst. Er wusste kaum noch zu sagen, weshalb er fortgegangen war.
Der Soldat stand steif und förmlich dabei. »Haben den Jungen im Alten Koog gefunden«, meldete er. »Sagte, er sucht sein Zuhause, oder so was.«
»Ach, Mitt!«, rief Milda verzückt aus. »Was bist du doch für eine freie Seele!« Und wieder umarmte sie ihn.
»Und außerdem«, fügte der Soldat hinzu, »entbietet euch Navis Haddsohn seinen Gruß. In Zukunft möchtet ihr auf euren Jungen besser Acht geben.«
»Navis Haddsohn!«, riefen Mitts Eltern aus, Milda mit beträchtlicher Ehrfurcht, Mitts Vater überrascht und voll Unmut. Navis war der dritte und jüngste Sohn von Graf Hadd.
»Unser prächtiger Navis Haddsohn«, sagte Mitts Vater sarkastisch. »Der weiß wohl alles darüber, wie man seinen Sohn aufzieht, was?«
»Das kann ich wirklich nicht sagen«, entgegnete der Soldat und machte sich davon. Er wollte sich auf keinen Streit mit einem stämmigen, angriffslustigen Menschen wie dem älteren Alhammitt einlassen.
»Nun, ich finde es sehr nett von Navis, dass er uns unseren Mitt ohne Umstände zurückschickt!«, sagte Milda, als er fort war.
Mitts Vater spuckte in den Graben.
Milda war dennoch von Navis’ Freundlichkeit beeindruckt. Sie erzählte jedem davon, solange ihr Mann nicht in der Nähe war, denn er hätte sich darüber geärgert, und die meisten Menschen, denen sie es erzählte, machten ebenfalls große Augen. Eine Zeit lang befasste sich Milda eingehend mit Navis und brachte über ihn in Erfahrung, was sie konnte. Viel über ihn zu wissen gab es allerdings nicht. Die beiden älteren Brüder, Harl und Harchad, waren die Lieblingssöhne des Grafen, und darum hörten die Holander über sie am meisten. Erst etwa um die Zeit, als er Mitt nach Hause bringen ließ, war Navis ein wenig in der Gunst des Vaters gestiegen. Der Graf hatte ihm ungefähr drei Jahre zuvor eine Frau ausgewählt; Navis’ älteren Brüdern war es früher schon ähnlich ergangen. Milda hörte, dass Navis und seine Frau einander vergötterten und unzertrennlich seien. Als Navis’ Frau eine Tochter zur Welt brachte, erfuhr Navis ein bisschen mehr väterliche Gunst als zuvor.
Der Graf schätzte Enkelinnen sehr hoch. Nicht etwa, dass er Mädchen auch nur im Geringsten mochte; er benötigte Enkelinnen, weil er ein außerordentlich streitsüchtiger Mensch war. Enkelinnen konnten mit anderen Grafen oder Baronen verheiratet werden, die dann im Streit für Hadd Stellung beziehen mussten. Bislang hatte jedoch nur Harl eine Tochter, und als Navis’ Frau nun ebenfalls ein Mädchen gebar, war Hadd überglücklich. Milda erfuhr, dass Navis’ Frau schon bald ein zweites Kind erwartete und Hadd freudig auf eine weitere Enkelin hoffte, die er zur Ehe versprechen konnte.
Das Kind kam im darauffolgenden Monat zur Welt. Es war ein Junge, und Navis’ Frau starb bei der Geburt. Es hieß, dass Navis vor lauter Trauer seinem Sohn nicht einmal einen Namen geben wollte. Die Kindermädchen wendeten sich schließlich an Graf Hadd persönlich und baten ihn, sich einen Namen zu überlegen. Hadd jedoch ärgerte es so sehr, keine neue Enkelin bekommen zu haben, dass er den Jungen nach einem Baron, den er auf den Tod nicht ausstehen konnte, Ynen, nannte. Zu seiner Besänftigung brachten noch im gleichen Jahr sowohl Harls als auch Harchads Frau ein kleines Mädchen zur Welt. Navis gab sein Offizierspatent im Heer des Grafen auf und geriet völlig in Vergessenheit. Schon bald war es unmöglich, irgendetwas über ihn oder über seine Kinder zu erfahren, die Hildrida und Ynen hießen.
Ganz vergaß Mitt sein Gelobtes Land nicht. Als der Wind sich das nächste Mal legte, erinnerte er sich
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