Jones, Diana Wynne
immer wieder zum Vater: »Du und deine Freien Holander! Freie Holander! In dieser Stadt gibt es so etwas wie Freiheit überhaupt nicht!« Mitt konnte einfach nicht sagen, was das bedeuten sollte.
Die Stadt Holand erschreckte und verstörte ihn. Er verabscheute den Schmutz, den Lärm, die vielen Menschen. Jeden Morgen musste er ihren Eimer zum Kai bringen und in den Hafen ausleeren. Wie Milda sagte, bestand einer der Vorteile ihres Mietshauses darin, dass man nicht weit zu gehen brauchte, um den Unrat loszuwerden. Mitt hasste den Gestank des schmierigen Hafens, wo Fischschuppen auf den Pflastersteinen glänzten wie Pailletten auf einem schmutzigen Kleidungsstück. Das Gedränge stieß ihn ab. Er sah stolze Schiffe mit vielen Masten und flatternden Wimpeln, Kauffahrteischiffe, die ständig beladen und entladen wurden, dazu auch Schiffe der gräflichen Flotte. Dazwischen lagen, dicht aneinander gedrängt und geschäftig, kleine Boote: Ruderboote, Kutter, Jollen und gut hundert Fischerboote. Mitt war immer froh, wenn die Fischfangflotte auslief, denn hinterher erschien das überfüllte Wasser ein wenig leerer.
Sobald Mitt den Eimer an die Tür ihres Zimmers zurückgebracht hatte, war er, seitdem Milda Arbeit gefunden hatte, für den Rest des Tages auf sich gestellt. Zu tun hatte er nichts, nur vorsehen musste er sich. Am besten war es, wenn er den anderen Kindern nicht über den Weg lief. Er hasste sie fast alle. Stadtkinder waren sie, listig, flink und verschlagen. Sie umzingelten Mitt und verspotteten ihn, weil er nicht wusste, wie es in der Stadt zuging. Wie einen Narren ließen sie ihn aussehen, und dann rannten sie johlend davon.
Gewöhnlich versteckte sich Mitt in den dunklen Löchern und Winkeln im Haus oder am Kai vor ihnen. Eines Tages aber hatte er genug von alledem und lief vom Hafen weg, den Hügel hinauf in den besseren Teil der Stadt. Dort waren zu seiner Überraschung die Straßen sauberer, und je höher er kam, desto breiter und noch sauberer wurden sie. Die Luft roch beinah frisch. Ein scharfer Geruch nach Meer lag darin und auch der Herbstduft des Koogs. Die meisten Häuser waren gestrichen, und anders als an ihrem Mietshaus war die Farbe frisch und hell; Mitt konnte erkennen, was auf den Bildern dargestellt wurde. Langsam ging er voran, betrachtete Bäume und Früchte, rote Kringel und blaue Blumen, bis er zu einem besonders hübschen hohen Haus kam, das nicht nur mit den üblichen Farben, sondern auch mit Gold bemalt war. Auf einem Giebel reichte eine sehr steif anmutende Dame in grünem Kleid einem steifen Mann auf dem benachbarten Giebel, dessen Haar aus purem Gold zu bestehen schien, eine Traube tiefroter Weinbeeren. Mitt bewunderte sie sehr. Sie erinnerten ihn ein wenig an die Galionsfiguren der großen Schiffe. Und vielleicht wegen des frischen Geruchs in der Luft ließen sie ihn an sein Gelobtes Land denken.
In Bewunderung und Tagträumen versunken stand er vor dem Haus, bis ein Diener des Kaufmanns, dem es gehörte, mit einem Stock herauskam und ihm befahl, sofort zu verschwinden. Er nannte Mitt einen Hafenbengel und sagte, er habe hier nichts zu suchen. Erschrocken rannte Mitt fort. Während er lief, sah er sich um und erblickte auf der Kuppe des Hügels den Palast des Grafen. Er war größer, weißer, heller und mit mehr Goldfarbe verziert als jedes andere Haus in Holand. Mitt fühlte sich von dem Gebäude erdrückt. Er kam sich vor wie ein Apfelkern in einer Mostpresse.
Für viele Jahre sollte Mitt zum letzten Mal an sein Gelobtes Land gedacht haben. Holand quetschte es ihm aus dem Kopf und ließ ihn in nicht enden wollender Verzweiflung zurück.
Einige Tage später hatte Mitt Geburtstag, und damit war Seefest, das er genauso bestürzend fand wie die ganze Stadt. An diesem Feiertag hatte jeder frei, sodass noch mehr Leute auf den Straßen waren als sonst. Auf den Schultern eines freundlichen Mannes namens Canden sitzend, der ein Freund seines Vaters zu sein schien, sah Mitt der Festprozession zu. Ein wüster, lautstarker Haufen kunterbunt gekleideter Menschen kam auf der Straße näher. Die Prozessionsteilnehmer brüllten und johlten schrecklich, und alles trug bunte Bänder, Früchte und Blumen. Einige hatten alberne Hüte auf. An langen Stäben hielten sie Bilder hoch – Pferde-und Rinderköpfe, die ebenfalls Hüte trugen und mit Bändern geschmückt waren. Große Jungen brachen aus dem Zug aus und drängten sich an anderer Stelle wieder hinein. Dabei schrien sie laut und schwenkten
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