Jones, Diana Wynne
gute Abwechslung zu den Pasteten. Hildy aber saß nur da, wirkte immer hochmütiger und sagte nichts.
Mitt fand ihr Verhalten unerträglich. »Iss was«, forderte er sie gereizt auf. »Du musst zu Kräften kommen.«
»Ich kann nicht«, sagte Hildy gepresst und tonlos. »Onkel Harchad ist tot. Und die Hälfte unserer Vettern und Basen auch.«
»Na und? Wenn du mich fragst, sei bloß froh, dass du sie los bist.«
»Onkel Harl ist ein Mörder«, sagte Hildy untröstlich. »Er ist nicht besser als Al.«
»Aber das wusstest du doch schon vorher«, legte Mitt ihr dar, »und da hat es dir trotzdem nicht den Appetit verschlagen.«
»Ja, iss etwas, Hildy«, sagte Ynen.
»Begreift ihr denn nicht?«, fragte Hildy. »Onkel Harl hat wahrscheinlich auch Vater umbringen lassen.« Zwei Tränen rannen ihr langsam die schmalen Wangen hinunter. »Nur weil wir geflohen sind, glauben die Leute, er wäre bei uns gewesen.«
Ynen blickte Mitt entsetzt an. Mitt seufzte. Seiner Ansicht nach hatte er schon genügend Sorgen, ohne die ihren auch noch teilen zu müssen. »Ich habe immer gedacht, dass etwas nicht gestimmt hat an eurer Erzählung von eurer Flucht. Mir sieht es ganz danach aus, als hätte euer Onkel Harchad es von vornherein auf euer Leben abgesehen gehabt.«
»Du meinst«, fragte Ynen, »dass die Soldaten am Westbecken nicht deshalb auf uns geschossen haben, weil sie uns für dich gehalten haben, sondern weil Onkel Harchad ihnen befohlen hatte, uns auf jeden Fall aufzuhalten?«
Mitt nickte. »Das könnte sehr gut sein. Harchad oder Harl. Wenn ihr mich fragt, dann hattet ihr mehr Glück, als ihr damals ahnen konntet.«
»Glück!«, rief Hildy aus. »Du nennst es Glück, wenn Vater wahrscheinlich tot ist und Al uns an Onkel Harl verkaufen möchte!« Stoßweise rannen ihr die Tränen über die Wangen. »Lithar ist ein Schwachkopf!«, brüllte sie. »Und ich musste mit meinem Verlöbnis prahlen! So etwas wie Glück gibt es überhaupt nicht. Das Leben ist schrecklich. Ich hasse es. Ich glaube, ich habe es immer gehasst.«
»Aber du fährst gern auf der Straße des Windes«, warf Ynen verletzt ein.
»Ja, am liebsten mit zwei Mördern an Bord!«, rief Hildy. »Und in die Gefangenschaft!« Sie beugte den Kopf über die blasse Eichentischplatte und schluchzte erbärmlich.
Mitt war gekränkt. »Hör auf damit!«, fuhr er Hildy an. »Wenn ich nicht hätte fliehen müssen, dann lägst du jetzt tot in Holand, das weißt du genau! Ynen ist schlimmer dran als du, und er weint nicht. Was wir tun müssen, liegt doch auf der Hand. Wir müssen hier raus und nach Norden. Also hör auf zu weinen und iss lieber etwas!«
Tränen spritzten über den Tisch, als Hildy den Kopf hochriss und Mitt zornig anfunkelte. »Ich habe wohl noch nie jemanden so verabscheut, wie ich dich verabscheue!«, rief sie. »Nicht einmal Al!« Sie packte eine Traube Weinbeeren und begann sie zu essen, ohne auf den Geschmack zu achten.
»Wie kommen wir von hier weg?«, fragte Ynen besorgt.
Mitt stand auf und versuchte es an der Tür. Sie war verschlossen. Erschüttert blickte er zu den Stäben an den Fenstern hinüber. Er hatte nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass die Inselfrauen sie einsperren würden.
»Eisenstäbe«, sagte Ynen.
»Natürlich, du Dummkopf!«, fuhr Hildy ihn an. »Das ist das Kinderzimmer. Die Fenster sind vergittert, damit die Kleinen nicht hinausfallen.« Nachdem sie die Weintrauben gegessen hatte, bemerkte sie plötzlich, wie hungrig sie war. Hildy begann, lauwarmen Bratfisch zu verschlingen. »Ihr Götter!«, sagte sie mit vollem Mund. »Im Kinderzimmer war ich nicht mehr eingeschlossen, seit… seit langer Zeit.«
Ynen und Mitt ließen sie essen und gingen, um einen Blick aus den Fenstern zu werfen. Sie schauten auf das Festland hinaus, das sich wellig in die Ferne erstreckte, und auf den kiesigen Damm, der hinter Lithars Herrensitz dorthin führte. Kleine Boote waren zu beiden Seiten auf den Kies gezogen. Direkt unter dem Kinderzimmer lag ein ummauerter Hof. Ein Tor in der Mauer führte zum Damm. Der Hof war voller Leute, und auf dem Damm herrschte in beide Richtungen reger Betrieb.
»Wir könnten nach unten kommen«, sagte Ynen. »Wir müssten aus dem nächsten Fenster klettern, denn darunter ist eine Regenrinne, die gleich auf die Mauer führt. Wir sollten warten, bis weniger Leute unterwegs sind, und es dann versuchen.«
Mitt öffnete vorsichtig das Fenster über der Regenrinne und versuchte, den Kopf zwischen die Stäbe zu
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