Jones, Diana Wynne
stecken. Es gelang ihm zwar nur knapp, aber er wusste aus Erfahrung, dass er dort, wo sein Kopf Platz fand, auch den übrigen Leib hindurchzwängen konnte, wenn er ihn auf die Seite legte. Da er größer war als Ynen, passte Ynen mit Sicherheit hindurch, und Hildy vermutlich ebenfalls. Darum setzten sie sich wieder und warteten, bis weniger Leute unterwegs wären.
Eine Stunde später war es so weit. Mitt steckte den Kopf durch die Stäbe, drehte die Schultern zur Seite und schob. Er kam kaum voran. Er musste wohl gewachsen sein. Mit dem Bauch blieb er stecken. Als er sich endlich hindurchgequetscht hatte und auf der hohen Sohlbank lag, fühlte sein Bauch sich an, als hätte er ihn irgendwie bis zu den Knie hinabgezogen. Er wandte sich herum und hielt sich an den Gitterstäben fest, um Ynen und Hildy hindurchzuhelfen.
Doch Ynen gelang es gar nicht, sich hindurchzuzwängen. Er war zu wohlgenährt, seine Schultern einfach zu dick. Er schob und wand und zwängte sich voran, während Mitt nicht ohne eigenes Risiko von außen an ihm zerrte, aber es nutzte einfach nichts. Ynen musste zu seiner Enttäuschung aufgeben. Seine Schultern waren übersät mit blauen Flecken. Bei Hildy war es noch schlimmer. Sie war insgesamt größer als Mitt und bekam kaum den Kopf durch die Öffnung. Gesenkten Kopfes standen die Geschwister am Fenster, während Mitt draußen hockte. Seine Knie schmerzten ihm von der Anstrengung, und er fühlte sich sowohl vom Sturz als auch von der Entdeckung bedroht. Was sollten sie denn nur tun?
»Soll ich wieder hereinkommen, oder was?«, fragte Mitt verärgert.
»Könntest du nicht auf die andere Seite kommen und die Tür aufschließen…«, setzte Ynen an, doch Hildy unterbrach ihn:
»Ihr Götter! Da ist Vater! Seht doch!« Ihr Gesicht war plötzlich hellrot geworden, und sie sah aus, als würde sie gleich wieder zu weinen anfangen.
Mitt schwang sich auf der Sohlbank herum, um zu schauen. Der Mann, der sich auf dem Kiesdamm dem Herrensitz näherte, trug die Kleidung und die großen Stiefel eines Bauern, aber es war ganz eindeutig Navis. Mitt erkannte ihn an seiner Gehweise und, selbst auf diese Entfernung, dem Gesicht, das Harchad und Hildy so sehr ähnelte. »Er ist es wirklich!«, sagte Mitt. »Euch lacht wirklich das Glück des Alten Ammet.«
»Glück?«, meinte Ynen.
»Mitt, klettere hinunter und warne ihn, schnell!«, beschwor Hildy ihn hastig. »Sag ihm, dass wir gefangen sind und dass er hier nicht sicher ist. Schnell, bevor Al ihn sieht!«
»Aber er wird mich erkennen«, wandte Mitt ein.
Hildy rüttelte in ihrer Besorgnis an den Gittern. »Das kann er gar nicht – nicht bei deinem Anzug. Wenn du nicht gehst, dann muss ich schreien, und das wird man doch hören!«
»Schon gut, schon gut«, sagte Mitt. »Ich sag’s ihm. Ich sag ihm, er soll zurück aufs Festland, und dann befreie ich euch irgendwie. Der nimmermüde Mitt macht wieder die ganze Arbeit allein.«
»Ach, halt den Mund«, sagte Ynen.
»Und beeil dich!«, sagte Hildy.
Mitt schnitt ihnen ein Gesicht und ließ sich am Abflussrohr hinab. Mitt der Retter!, dachte er. Ohne dass ihn jemand bemerkte, erreichte er die Hofmauer, und niemand schenkte ihm mehr als einen beiläufigen Blick, als er von der Mauer glitt und zum Tor eilte.
Navis näherte sich dem Tor. Aus der Nähe sah Mitt, dass er müde aussah und unrasiert war. Die großen Stiefel waren schlammverkrustet. Navis beachtete Mitt gar nicht, als dieser ihm vom Tor entgegenlief. Mitt fasste Mut: Navis erinnerte sich nicht an ihn. Schließlich konnte er ihn am Tag des Seefestes nur sehr kurz gesehen haben.
»He!«, raunte Mitt ihm zu. »Geh dort nicht rein. Du bringst dich sonst in Gefahr.«
Zweierlei hatte Mitt nicht bedacht. Seit Tagen war Navis nun auf der Flucht, und sein Überleben hing von der Schärfe seiner Sinne ab. Außerdem besaß er ein ebenso gutes Gedächtnis für Gesichter wie Ynen. Vielleicht gar nicht für Gesichter, denn Navis erkannte Mitt an seinem Körperbau und der Art, wie er sich bewegte. Da Navis keinen Grund hatte anzunehmen, dass Mitt ihm wohlgesonnen sein konnte, blickte er Mitt nur überrascht an, wie man einen Wildfremden eben anblickt, von dem man unerwartet angesprochen wird, und ging an ihm vorbei in den Hof.
Mitt ärgerte sich so sehr über diese Überheblichkeit, dass er Navis seinem Schicksal überlassen hätte, wären nicht Hildy und Ynen gewesen, die ihn aus dem vergitterten Kinderzimmer beobachteten. Er rannte Navis hinterher und zupfte
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